22.01.2024

Wir schweigen nicht. Nie wieder – ist jetzt.

30.000 Menschen demonstrierten gegen die AFD

Von Nicole Schneidmüller-Gaiser

„Ich hab Gänsehaut – so was hab ich noch nie erlebt!“ Die Frau auf der Treppe am Dortmunder Hauptbahnhof fasst in Worte, was wohl viele denken und fühlen. „Ich bin heute hierhergekommen, weil ich mich vergewissern musste. Ob die AfD wirklich `die Mehrheit´ ist – oder ob sie es einfach versteht, diesen Eindruck zu erwecken. Und nun – bin ich so froh. Wir sind so viele!“ Carola Seibel ist aus dem Dortmunder Westen angereist. Sie und ihr Mann gehen sonst nicht auf Demos, sie basteln sonst keine Plakate und sie skandieren normalerweise auch keine Schlachtrufe in der Öffentlichkeit.

Doch an diesem Tag, in dieser besonderen Zeit, haben sich die beiden Mittfünfziger eingereiht. „Das neue Braun ist blau! Für unsere Demokratie und gegen Menschenverachtung in unserer Stadt“ – unter diesem Motto hatte der Dortmunder Arbeitskreis gegen Rechtsextremismus die Dortmunder*innen eingeladen. Beeindruckende 30.000 Bürgerinnen und Bürger folgten dem Aufruf und zeigten, was Jutta Reiter von der Bühne vor der Katharinentreppe für den Arbeitskreis und unter großem Applaus formuliert: „So was können wir hier in Dortmund gar nicht gebrauchen.“

„Das wird was Großes“

Schon gegen 14 Uhr, eine Stunde vor dem offiziellen Start des Demonstrationszuges, war klar: Das wird was Großes. Der Platz vor der Alten Steinwache füllte sich immer mehr. Junge und alte. Politisch Aktive und solche, die „nur“ zu Wahlen gehen. Veganerinnen und Wurst-Liebhaber. Ur-Dortmunder*innen und solche, für die die Stadt zur zweiten Heimat geworden ist. Mittendrin auch die Dortmunder Christ*innen gegen Rechtsextremismus. Und viele Dortmunder Pfarrpersonen. Es zeigt: Das Thema geht alle an. Die nun öffentlich gewordenen Pläne der AfD und ihrer rechtsextremen Freunde machen keinen Unterschied zwischen Kommunisten, Flüchtlingshelferinnen, Andersdenkenden und Migranten – wer nicht ins Weltbild passt, soll weg. „Remigration“ nennen sie das. Und meinen nichts anderes als Deportation.

Fast andächtig und ernsthaft setzt sich der Zug schließlich um 15:20 Uhr in Bewegung – es dauert, bis 30.000 Paar Füße eine Reihe bilden. Über die Grüne Straße geht der Zug, begleitet von Spielmannszügen kommt zwischendurch fröhliche Stimmung auf. Dazu tragen auch die vielen kreativen Plakate bei: „Conny redet nicht mit Faschos“ oder „Nazis essen heimlich Döner“ steht da, aber auch „Es ist fünf vor 1933“ und „So hat es damals auch angefangen“.

„Niemand mag die AfD!“

Im Tunnel auf der Schützenstraße versuchen sich auch die Demo-Neulinge an Sprechchören – hunderte rufen entschlossen „Niemand mag die AfD!“ Oben auf der Brücke steht ein Vermummter und fotografiert die Menge. Die Bedrohung von rechts ist real und überall – das wissen sie hier in Dortmund. Nicht nur in Dorstfeld.

Über die Bahnhofstraße erreicht der Lindwurm schließlich den Königswall – und spätestens jetzt ist klar: Die Erwartungen der Organisatoren wurden weit übertroffen. Pech für einen Autofahrer aus dem Sauerland – er und seine Partnerin versuchen noch, den Parkplatz vor dem Bahnhof zu verlassen – und richten sich dann auf zwei Stunden im Auto ein. Die Polizei bestätigt später: 30.000 Teilnehmende. Eine der größten Demos, die es in Dortmund je gab.

Auf der Treppe am Bahnhof, während vorne längst Oberbürgermeister, Kirchenvertreter und Politiker reden, kommen die Seibels mit einem jungen Mann ins Gespräch. „Das tut so gut“, strahlt der Lüdenscheider, dessen Wiege nicht in Deutschland stand. „Als Ausländer denkt man ja manchmal, dass alle die AfD toll finden. Aber schaut nur – das sind soo viele, die anders denken“

Da kommen zur Gänsehaut auch noch ein paar verstohlene Tränen hinzu. Und der feste Vorsatz nicht nur bei den Seibels: Wir machen weiter. Wir schweigen nicht. Nie wieder – ist jetzt.


EKvW-Vizepräsident Ulf Schlüter: „Wir wollen, wir dürfen, wir werden nicht schweigen“

Zu den Rednern zählte auch Ulf Schlüter, seit 2018 Theologischer Vizepräsident der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW), zuvor Superintendent des Kirchenkreises Dortmund. Schlüter erinnerte in seiner Ansprache an den evangelischen Pfarrer Martin Niemöller, der – obwohl vormals deutschnational und kaisertreu und am Anfang sogar begeistert vom Nationalsozialismus, acht Jahre lang im Konzentrationslager gesessen habe, weil er früher als andere verstanden hatte: „Es ist verhängnisvoll zu schweigen, wenn Menschen und Menschenrechte mit Füßen getreten werden, wenn die Freiheit des Denkens und Glaubens abgeschafft und das Recht zum Instrument des Terrors wird …“

Ulf Schlüter bekräftigte auf dem Dortmunder Königswall vor rund 30.000 Menschen: „Wir wollen, wir dürfen, wir werden nicht schweigen. Wenn in diesem Land Rechtspopulisten und Rechtsextreme Pläne schmieden, Millionen Menschen ins Ungewisse oder in den Tod zu deportieren – wieder einmal, weil sie fremd und anders sind, dann müssen wir denen das Handwerk legen.“

Rassismus, Antisemitismus, Islamophobie, Antiziganismus – jede Form von Menschenfeindlichkeit habe keinen Platz in diesem Land, stellte Schlüter klar. „Wer Hass gegen andere schürt, wer die ungeteilte Menschenwürde aller missachtet und damit auf Stimmenfang geht, der muss raus aus den Parlamenten. Konsequent und schleunigst.“

EKvW-Vize-Präsident Ulf Schlüter auf der Kundgebung gegen rechts