Wo heute eine veritable Einkaufspassage steht, befand sich seit 1571 die Elende, ein Armenhaus. Schon im Mittelalter gab es Armentafeln für die Lebensmittelversorgung Armer.
Die Industrialisierung nach 1840 brachte viel Menschen, aber auch die Soziale Frage in die Stadt. Eine Herausforderung, mit der die Evangelische Kirche anfangs ihre Probleme hatte. 1890 fand erstmals eine kirchliche Sozialkonferenz statt. Gottlieb Traub schrieb 1904 in Dortmund sogar die erste moderne Wirtschaftsethik.
An der Hövelstraße 23, auf dem Gelände der heutigen Thier-Galerie, lag eine besondere Einrichtung in der Stadt: die Elende. Hinter diesem Namen verbarg sich ein Armenhaus für alleinstehende Frauen. Die Elende hatte durchschnittlich sechs Bewohnerinnen und gehörte zu den Dortmunder Armenstiftungen, die an die Kirchen angebunden waren, spätestens seit der Reformation aber vom Rat beaufsichtigt und verwaltet wurden. Das galt besonders für das Haus an der Hövelstraße, das gesichert für die Zeit zwischen 1571 und 1876 nachgewiesen ist. Erstmals erwähnt wurde 1571 auch ein Kinderhaus an der Olpe. Schon im Mittelalter gab es an den Stadtkirchen und Klöstern so genannte Almosenschüsseln oder Armentafeln als Stiftungen für die Lebensmittelversorgung Armer.
1762 reformierte der Rat die Armen- und Wohltätigkeitsstiftungen. Sie wurden zu zwei „Corpora“ zusammengelegt, die Verwaltung vereinheitlicht und gestrafft. Die Ausgabe von Naturalien wurde durch Geldzahlungen ersetzt. Die Einsparungen kamen dem städtischen Haushalt zugute. 1769 wurde das Gasthaus in ein Waisenhaus umgebaut. So wurde faktisch eine einheitliche Armenverwaltung geschaffen.
Erst die Industrialisierung nach 1840 gab Dortmund wieder überregionale Bedeutung. Zugleich entstand die Soziale Frage, eine Herausforderung, mit der die Evangelische Kirche anfangs ihre Probleme hatte.
Zwischen 1850 und 1914 stieg die Zahl der Einwohner von 8000 auf eine Viertelmillion - eine wahrhaft rasante Entwicklung. Auch die Zahl evangelischer Christen wuchs im selben Zeitraum, nahezu um das Zehnfache: Von 6500 auf 63.000 Gemeindeglieder. Dennoch nahm ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ab. Denn im Zuge der Industrialisierung wanderten immer mehr Katholiken zu. Heute sind die Konfessionen nahezu gleich groß.
Mit dem Jahrhundertereignis der Industrialisierung tat sich die Evangelische Kirche anfangs schwer. Im Jahr 1841 berichtet der Superintendent noch, dass die evangelischen Gemeinden „bis jetzt noch vor den religiösen und sittlichen Verirrungen des Communismus, Atheismus und Paupurismus [Armutsfrage] mit seinen entsittlichenden Wirkungen“ verschont geblieben seien.
Das änderte sich in den folgenden Jahrzehnten dramatisch, wie kirchliche Berichte zeigen. Im Protokoll der Kreissynode von 1864 heißt es: „In denjenigen Gemeinden, in welchen die Industrie vorherrscht… ist auch die materielle Richtung und ihr… Einfluss auf Frömmigkeit und Tugend vorherrschend, wie dies Beispiele erschreckender Gottlosigkeit, Gewissenlosigkeit, Bosheit und Rohheit… bestätigen.“ Und wenige Jahre später, durch den „massenhaften Zuzug aus allen Weltgegenden“ erkenne man „Land und Leute bald nicht mehr“. Und: „Viele schlimme Elemente kommen dadurch in Orte, welche bisher in mehr oder minder Abgeschlossenheit sich wohl befanden.“ - Namentlich genannt werden Mengede, Bodelschwingh und Derne.
Die Evangelische Kirche nimmt die sozialen Missstände über lange Zeit vor allem als moralische Probleme wahr. So klagt die Kirchengemeinde Hörde, „dass leider so viele Brautpaare in Unehre die Ehe beginnen.“ Aus Eving heißt es: „Ein namhafter Teil der Bevölkerung lebt entfremdet von Gottes Wort, Gebet und kirchlichem Leben. Damit hängt zusammen Unkeuschheit und Trunksucht und mangelhaftes, trauriges häusliches Leben, Vergnügungssucht, Wirtshausleben.“
Dass schlechte Arbeitsbedingungen und geringe Löhne ausschlaggebend sind, wird erst nach und nach verstanden. So findet nachweislich im Mai 1890 erstmals eine kirchliche Sozialkonferenz statt. Da heißt es jetzt ganz unverblümt, die wichtigste Aufgabe sei die Überwindung des Klassengegensatzes, ein freundschaftlicher Verkehr der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, gegenseitige Achtung und Wohlwollen. Sogar die „Errichtung von Arbeiterausschüssen“ und „eine wirksame Arbeiterschutzgesetzgebung“ werden gefordert.
Einzelne gehen noch weiter. Als es im Ruhrgebiet 1904/1905 zu Massenstreiks von Bergarbeitern kommt, beteiligen sich einzelne Pfarrer sogar an Streikversammlungen. Sehr zum Ärger der preußischen Behörden, wie Berichte der Geheimpolizei zeigen.
An der Seite der Armen zu sein, bedeutet für Christen, diakonisch zu sein. Das gesellschaftliche Zusammenleben in der Reichsstadt Dortmund hatte bis zum Jahre 1500 mehrere Einrichtungen der Fürsorge für Armen und Kranke hervorgebracht. Sie gingen zumeist auf christlich motivierte Stiftungen Dortmunder Bürger zurück, die von regelmäßigen kleineren Almosenspenden bis zu größeren einmaligen Spenden in Form von Grundstücken, Nutzungsrechten und finanziellen Mitteln reichten. Die gebenden Dortmunder Bürger erhofften sich ein sicheres Leben im zukünftigen himmlischen Jerusalem und erwarteten von den Empfängern der Almosen Gebete für dieses Seelenheil. Regeln und Ordnungen für die sozialen Einrichtungen stellte der Rat der Reichsstadt in Abstimmung mit Laienvertretern der Stadtkirchen auf. Die praktische Verwaltung wurde in der Regel Geistlichen übergeben.
Das „Hospital zum Heiligen Geist“ für arme Kranke am Westenhellweg (heute Krüger-Haus) ist die vermutlich älteste soziale Einrichtung in Dortmund. Ihm angeschlossen war das ehemalige Leprosenhaus mit seiner Johanneskapelle an der Funkenburg, das zum Siechenhaus umfunktioniert wurde. Es lag einen Kilometer vor dem östlichen Stadttor – heute wird der Bereich Funkenburg genannt. Das „Neue Gasthaus“, auch „Neues Hospital“ genannt, diente zur Unterbringung und Versorgung armer und erkrankter Fremder sowie wandernden Pilgern. 1571 werden erstmals erwähnt das Kinderhaus an der Olpe und „Die Elenden“ in der Hövelstraße für arme und gebrechliche alleinstehende Frauen. Alle Einrichtungen waren im Besitz mehrerer Bauerngüter.
Die Reformation änderte hier kaum etwas. Für Luther stand fest, dass die Kollekte, die freiwillig gegebene Spende, zur evangelischen Gottesdienstordnung gehört. Ihre Verteilung unter den Armen konnte aber von Laien erfolgen, die in der Gemeindeversammlung gewählt wurden.
Unter dem Begriff der Innere Mission hatte sich im 19. Jahrhundert ein umfassendes soziales Vereinswesen aufgebaut. Daraus entwickelte sich ein umfangreiches diakonisches und soziales Engagement in und im Umfeld der evangelischen Kirche: Kindergärten, Mädchen und Jünglingsheime, Fürsorgestellen für Alkoholkranke, die Frauenhilfe mit ihren lokalen Hilfen und ähnliches mehr. Auf Vorschlag Johann Heinrich Wicherns auf dem Wittenberger Kirchentag 1848 wurde in Berlin der „Central-Ausschuss für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche“ gebildet. Damit war eine Dachorganisation für das evangelische Vereinswesen geschaffen, das längst auch die Grenzen der einzelnen Gemeinden überschritten hatte. Sie war zugleich Ausdruck für den freien Verbandsprotestantismus. Heute ist vieles im Diakonischen Werk zusammengeführt.
Eine politische Dimension erhielt dieses Vereinswesen dadurch, dass konkurrierend sozialdemokratische, katholische, aber auch von anderen Trägern Vereine errichtet wurden. Der Weg den die Kirche bevorzugt ist der diakonischer Einsatz. Wie von Wichern gefordert, werden auch in Dortmund Einrichtung der Diakonie und viele Vereine gegründet. Sie orientieren sich in der Regel an den Problemlagen und am Geschlecht. Kleinkinderschule, Töchterheim, Heim für Ladengehülfinnen, evangelisches Damenheim, ein Mädchenheim, ein Magdaleneheim (also eine Einrichtung für Prostituierte), eine Fürsorgestelle für Alkoholkranke sowie ein Vereinshaus junger Männer und ein Altenversorgungshaus. Schon damals gab es nicht weit von hier in der Kampstraße ein Haus der Diakonie, in dem eine Reihe solcher Einrichtung untergebracht waren. Darüber hinaus entstehen viele Vereine in den Gemeinden: Arbeiterverein, Frauenhilfe, Gesellenverein, Jugendvereine, Jünglingsvereine Jugend wann der Bund, Jung Mädchen und jungen Frauenverein, Kirchenchöre, Missionsvereine, Fürsorgeverein für die gefährdete Jugend, blaues Kreuz (also Alkoholikerhilfen) Gefängnis Hilfsverein, Schiffer-, Mitternacht-und Kellner Mission und ein evangelischer Krankenhausverein. Diese allgemeine bürgerliche Aktivität führt letztlich auch zu einer Aufgabenteilung mit dem Staat. Dort hatte sich die Auffassung des Einwohnerbürgers durchgesetzt. Bürgerrechte und -pflichten waren nicht mehr an Grundbesitz gebunden. Für die Einwohner muss der Staat sich kümmern, was seine Kapazitäten und Möglichkeiten überschritt. Daher förderte er wie heute die sozialen Verbände und wird nur da tätig, wo Lücken entstehen oder Bedarfe nicht abgedeckt werden.
Superintendent Consbruch schätzte 1841 die Probleme der Industrialisierung noch beherrschbar ein: „Unsere Gemeinden sind bis jetzt noch vor den mancherlei religiösen und sittlichen Verirrungen und Ausschreitungen der Jetztzeit bewahrt geblieben. Weder Communismus noch Atheismus sind in sie eingedrungen, und den eigentlichen Paupurismus [Massenarmut zu Beginn der Industrialisierung; WIKI] mit seinen entsittlichenden Wirkungen nimmt man unter ihnen im Grunde noch gar nicht wahr.“
Mit der Industrialisierung stand die Kirche auch vor der Frage der sozialen Verantwortung. Sie sah die Missstände und fühlte sich herausgefordert. Die Protokolle der Kreissynoden ab 1850 zeigen die Entwicklung:
1864: „In denjenigen Gemeinden, in welchen die Industrie vorherrscht […] ist auch die materielle Richtung und ihr […] Einfluss auf Frömmigkeit und Tugend vorherrschend, wie dieses Beispiel erschreckender Gottlosigkeit, Gewissenlosigkeit, Bosheit und Rohheit […] bestätigen.“
1873: "Lünen, Mengende, Derne, Bodelschwingh […] werden durch neue Zechenanlagen, Eisenbahn und Bahnhöfe und daraus entstehende neue industrielle Unternehmungen so sehr das Ziel massenhaften Zuzug aus allen Weltgegenden, dass man Land und Leute bald nicht mehr kennen wird. Viel schlimme Elemente kommen dadurch in Orte, welche bisher in mehr oder minder Abgeschlossenheit sich wohl befanden."
Man sieht aus den Berichten der Kreissynoden: ab 1850 steigen die Klagen über die sittlich religiösen Zustände, und münden in einem wachsenden Klagelied über die Entfremdung von Kirche und christlicher Sitte. Die sozialpolitischen Probleme werden als moralische und religiöse Fragen wahrgenommen.
Dass diese Lebensbedingungen durch die Arbeitsbedingungen in den neuen industrialisierten Welt geprägt sind, wird nicht verstanden. Misstrauisch steht man Gewerkschaften und Sozialdemokratie gegenüber. In dem Protokoll der Kreissynode von 1893 heißt es: „Derne und Brechten klagen über die Entfremdung der Bergarbeiter vom Gottesdienste… Es sei dieser Rückgang eine Folge der sozialdemokratischen Agitation, die seit dem großen Bergarbeiterstreik im Jahre 1889 unsere Gegend für eine Sturmflut überschwemmt hat." (400, 27)
Es zeigt sich aber, dass die Kirche doch nach und nach ihre Lektion lernt und die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge der sozialen und auch religiösen Probleme besser erkennt. Bei der ersten Sozialkonferenz 19. Mai 1890 heißt es: „Die 1. Aufgabe ist die Überwindung des Klassengegensatzes […] im Verhältnis der Arbeitgeber und Arbeitnehmer"; und die Hauptforderung heißen dann: "freundschaftlicher Verkehr (der Arbeitgeber und Arbeitnehmer), Beweisung von Achtung und Wohlwollen gegeneinander"; "Errichtung von Arbeiterausschüssen" und "eine wirksame Arbeiterschutzgesetzgebung".
Trotz dieser politischen Forderungen sieht man Kirche und Christentum weiter im strikten Gegensatz zu Sozialdemokratie. Nochmal Ansatz aus der Kreissynode 1893: "Der Versuch, Sozialdemokratie mit dem Christentum zu versöhnen, scheitert an der vollständigen Unversöhnlichkeit beider."
Als Pfarrer 1905 beim Bergarbeiterstreik in einer Bürgerversammlung in Brechten auftraten und Position zu Gunsten der streikenden Arbeiter bezogen schreibt anschließend der Landrat: „Dabei haben die beiden genannten geistlichen [Pfarrer Morgenstern und Pfarrer Bartels] es insofern an der nötigen Besonnenheit fehlen lassen, als sie die Klagen der Bergleute ohne weiteres als bewiesen angesehen und das Verhalten der Bergwerksbesitzer als ungerecht bezeichnet haben. Hierdurch haben die Geistlichen nicht, wie es ihre Aufgabe gewesen wäre, dem Frieden gedient, sondern dem Hass die Herren haben es wohl gut gemeint, in Wirklichkeit aber lediglich den ärgsten Feinden der Kirche, den Sozialdemokraten, Vorschub geleistet […]" (400, 30)