Von Nicole Schneidmüller-Gaiser
Alle Jahre wieder: Das Schimpfen darüber, dass es die Dominosteine gefühlt schon im Hochsommer zu kaufen gibt, ist für viele ein ebenso fester Brauch wie das Essen der ersten Weihnachtsplätzchen selber. Menschen posten auf Facebook, wann sie das erste Mal im Radio durch einen bekannten Popsong „gewhamt“ wurden – und fiebern der ersten Ausstrahlung des 70er-Jahre-Klassikers „Drei Nüsse für Aschenbrödel“ entgegen. Keine andere Zeit im Jahr ist so dermaßen geprägt von Gewohnheiten, Ritualen und Traditionen – doch wo verlaufen die Grenzen? Wann wird aus einer Gewohnheit eine Schrulligkeit? Wann ist eine Handlung eine Marotte, wie wird ein Ritual zur Tradition?
Schon das Kirchenjahr selbst ist eine ständig wiederkehrende Abfolge von christlichen Festen und Festzeiten, nach der sich Gottesdienstpraxis und Liturgie richten. „Rituale geben Heimat und Orientierung. Menschen gleich welchen Alters tut eine feste Struktur gut“, erklärt Miriam Helmert, Pfarrerin in der St.-Petri-Nicolai-Kirchengemeinde in Dortmund. Als Mutter weiß sie aber auch: Rituale wie das gemeinsame Frühstück am Morgen oder die Gute-Nacht-Geschichte samt Gebet am Abend stärken Familien, geben Kindern Halt und beugen so Stress vor: „Alles, was zur Gewohnheit wird, macht es leichter. Dann muss ich nicht mehr darüber diskutieren, ob die Zähne geputzt werden …“
Natürlich sind die christlichen Rituale etwas anderes als Zähneputzen, betont sie schmunzelnd: „Wir machen die ja nicht um der Handlung selbst willen. Ein christliches Ritual ist immer ein Verweis auf unseren Glauben. Auch dann, wenn der Handelnde selber es vielleicht gar nicht weiß …“
Jesus bringt das Licht in die Welt
So sind all die blinkenden Lichterketten und künstlichen Kerzen im Advent christlich gesehen als Hinweis zu verstehen, dass durch Jesus das Licht in die Welt kommt. Am Adventskranz, den einst Johann Hinrich Wichern im Rauen Haus in Hamburg „erfand“, kann man Tag für Tag mehr erleben, wie sich dieses Licht ausbreitet: Um den Kindern in seiner Einrichtung das Warten auf Weihnachten leichter zu machen, bastelte er 1839 eine Art Weihnachtskalender. Er nahm ein Wagenrad und befestigte darauf so viele Kerzen, wie es Tage vom ersten Advent bis zum Heiligen Abend waren – anders als bei den heutigen Adventskalendern, die die Tage vom ersten Dezember bis Weihnachten zählen und dabei natürlich immer 24 Tage anzeigen. Vom ersten Advent bis Weihnachten sind es jedes Jahr unterschiedlich viele Tage – nämlich 22, wenn Heiligabend auf den vierten Adventssonntag fällt, bis höchstens 28, wenn Heiligabend am Sonnabend nach dem vierten Advent ist. 1839 waren es 23. Man kann sich vorstellen, dass der Gemeinschaftsraum hell erstrahlte, als endlich alle Kerzen entzündet werden durften.
Für Miriam Helmert sind solche Rituale eine gute Methode, um Kindern die Religion nahezubringen. „Kinder lernen Religion von außen nach innen – das Tun ist der erste Schritt auf dem Weg in die Glaubensgemeinschaft.“
Wohl auch deshalb ist die Advents- und Weihnachtszeit randvoll mit Ritualen, die oft weit über die Kindheit hinaus Bedeutung haben. Bei den einen beginnt die Weihnachtszeit damit, dass Plätzchen gebacken und Geschenke gebastelt werden. Andere putzen die Schuhe für den Nikolaus oder schreiben Wunschzettel. Und natürlich darf der Adventskalender nicht fehlen – selbst, wenn das „Kind“ längst erwachsen ist und hinter dem Türchen Parfum oder Hochprozentiges warten.
Doch warum entdecken wir unser eigenes Kind im Advent – und versorgen es mit Kakao und Hohlraumschokolade? „Im Advent sind wir besonders empfänglich für Rituale“, glaubt Pfarrerin Helmert. „Die Zeit des Wartens, die Geburt des Kindes – das alles ist doch eng verbunden mit dem eigenen Kind-Sein.“ Selbst wenig religiöse Menschen erinnern sich im Angesicht der Krippe an die eigene Kindheit - und wenn es eine schöne Erinnerung ist, wiederholen sie die Gebräuche von früher. „Oder sie machen eben etwas ganz Anderes.“
Nicht zu vergessen: Rituale schaffen ein Gefühl der Zugehörigkeit und Gemeinschaft. Wie sonst wäre die Beliebtheit der Weihnachtsmärkte zu erklären? Wenn es nur ums Trinken ginge, könnten Bürogemeinschaften wohl ganzjährig um die Häuser ziehen. Tun sie aber nicht.
Veränderungen und Brüche
Rituale sollten natürlich nicht zur reinen Pflicht werden, sonst bedeuten sie im schlimmsten Falle Stress. So mancher kann ein Lied davon singen, wie es sich anfühlt, wenn man „von Besinnlichkeit zu Besinnlichkeit“ hetzt, weil sich die Zahl der Weihnachtsrituale und Traditionen im Laufe eines Erwachsenenlebens verdoppelt. Am Heiligen Abend ins Krippenspiel der Patenkinder, am 1. Weihnachtstag zu den Eltern, am 2. zu den Schwiegereltern – ermattet schläft das junge Paar am Stefanitag schon zur Tagesschau ein.
„Bei uns haben wir durchaus darum gerungen, wie wir Rituale zusammenlegen“, erinnert sich Miriam Helmert. Natürlich gibt es auch Veränderungen und Brüche. Der Tod der eigenen Eltern ist ein notwendiger, aber trauriger Moment, sich von lieb gewonnenen Ritualen zu verabschieden. Die Geburt der eigenen Kinder dagegen ist ein schöner Grund, sich als Familie neue Rituale und Traditionen zu suchen. Und dabei empfiehlt die Theologin, nicht allzu dogmatisch zu ein: „Rituale dürfen sich auch verändern“. Wer den Weihnachtsbaum schon im Advent aufstellen möchte, weil er dann mehr davon hat – warum nicht?
Ein kleines Ritual, dass sie in der jüngeren Vergangenheit für sich liebgewonnen hat, ist für Miriam Helmert der Besuch der „ViertelSternStunden“ in St. Reinoldi. „Ich genieße diese tägliche Auszeit sehr – und ich beobachte, dass es vielen anderen Dortmundern auch so geht.“ Das klingt schön – vielleicht eine Idee für eine neue Familientradition …
Und dann kann es Weihnachten werden in uns …
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Evangelischen Kirchenkreis verraten ihr Rituale und Familien-Traditionen für die Advents- und Weihnachtszeit.
Zwölf rote Weihnachtskerzen am Baum
- „In meiner Kindheit hat mein Vater den Weihnachtsbaum immer mit 12 roten Wachskerzen geschmückt und gesagt: Für jeden Monat des Jahres eine Kerze. Das machen wir bis heute so. Weihnachtsbaum schmücken ist meine Aufgabe und passiert immer an Heiligabend morgens vor den Gottesdiensten. Ohne einen Weihnachtsbaum mit 12 roten, echten Kerzen aus Wachs wäre Weihnachten für mich nicht denkbar."
Sabine Breithaupt-Schlak, Pfarrerin in Berghofen
Schlichte Krippe aus Ton
- „Wir haben eine schlichte Krippe aus Ton, die meine Schwiegermutter vor vielen Jahren modelliert hat. Die bauen wir mit Bedacht und Freude auf und dabei hören wir das Weihnachtsoratorium. Außerdem haben wir echte Kerzen am Weihnachtsbaum. Ich mag besonders den Augenblick, wenn die letzten Kerzen ausbrennen, ihren Schein an die Decke werfen und es dann ganz still wird. Und: Ich liebe es, den Kindern bei einem Krippenspiel zuzuschauen.“
Birgit Steinhauer, Pfarrerin für Seelsorge und Trauerarbeit, gezeiten
Wunderschöne Weihnachtspyramide
- „Mein Großvater, Opa Adam, holte in meiner Kindheit am ersten Advent immer seine wunderschöne Weihnachtspyramide mit den hölzernen Figuren der Heiligen Familie, der Sterndeuter und Hirten hervor. Mit stolzgeschwellter Brust, weil mir diese Ehre zuteilwurde, verteilte ich jedes Jahr die Figuren auf die Etagen der Pyramide und sah zu, wie sie sich im Schein der Bienenwachskerzen drehten. Seit zwei Jahren hat diese Aufgabe nun mein Sohn Henri Adam übernommen.“
Daniela Abels-Ehrenfried, Leiterin der Präventionsfachstelle zum Schutz vor sexualisierter Gewalt
Neu starten und Pause machen
- „Advent ist, wenn Mandarinen über Wochen auf jeder meiner Einkaufslisten stehen. Advent ist, wenn die Gerüche von Tannengrün und Kerzen täglich meine Nase verwöhnen. Advent ist neu starten und Pause machen, warten und ankommen im Glauben und im Leben.“
Jana Lemke, Diakonin
Stille auf der Autobahn
- „Wenn wir früh am ersten Weihnachtstag von den Schwiegereltern zu meinen Eltern fahren, dann ist plötzlich alles ganz ruhig. Ich genieße diese Autofahrten zwischen den Familientreffen. Diese Ruhe ist fast so wichtig und schön, wie die eigentlichen Treffen mit all den Menschen.“
David Raasch, Pfarrer
ViertelSternStunde wärmt das Herz
- „Für mich ist es ja wirklich seit einigen Jahren die Viertelsternstunde – ganz persönlich und unstrategisch. Je mehr ich da sein kann, desto wärmer wird mein Herz.“
Leonie Grüning, Ständige stellvertretende Superintendentin im Kirchenkreis
„Tochter Zion” in der Reinoldikirche
- „Wenn um 18 Uhr der Bote der ViertelSternStunde ins Seitenschiff der Reinoldikirche geht, das Akkordeon „Tochter Zion“ anjingelt und es so ist, als würde der ganze Raum summen, das ist für mich Advent. Und ein Ritual, mit dem es für mich zu weihnachten beginnt: Wenn ich nach „O du Fröhliche“ in St. Reinoldi von Freund:innen hinter der Kirche mit Glühwein erwartet werde. Dann gibt´s noch ein paar ganz andere, persönliche, mir heilige Momente. Aber das ist mein Geheimnis.“
Susanne Karmeier, Pfarrerin in der Ev. Stadtkirche St. Reinoldi Dortmund
In voller Lautstärke
- „Keine Ahnung, wann genau, es muss im Studium gewesen sein, Mitte der 90er, da ist diese CD zu mir gekommen: Weihnachtslieder von Herrmann van Veen. Seitdem ist für mich und bei uns erst Advent, wenn Herman van Veen das erste Mal in voller Lautstärke „Herbei, o ihr Gläub'gen" durch das Haus schmettert, am allerliebsten als Begleitmusik zum allerersten Teigkneten und -ausrollen. Und wenn nach Lied Nummer 12 das Ros entsprungen ist und Herman fürs Erste schweigt, dann duften meist schon die ersten fertigen Plätzchen durchs Haus.
Ach so, ganz klar: Heiligabend zwischen Gottesdienst, Essen und Bescherung läuft genau diese CD auch wieder, spätestens.
Kerstin Schiffner, Pfarrerin in der Elias-Kirchengemeinde