Trauer und Einsamkeit gehen oft miteinander einher. Davon könnte Hermann viel erzählen. Wenn er denn jemanden hätte, der ihm zuhört. Seit seine Frau vor zwei Jahren starb, kommt er oft auf den Hauptfriedhof - nicht nur heute, am Ewigkeitssonntag. Dann dreht er seine Runde, besucht sein „Gretchen“, wie er sie liebevoll nennt, erzählt ihr, was so passiert ist seit seinem letzten Besuch. Heute könnte er sich begleiten lassen - denn am Eingang des Friedhofs haben vier Pfarrer*innen des Evangelischen Kirchenkreises Dortmund einen kleinen Stand aufgebaut. „Wir haben Zeit“, steht auf einer Tafel. „Wir möchten einfach dort sein, wo die Menschen sind. Zuhören. Begleiten. Dasein“, erklärt Leonie Grüning, stellvertretende Superintendentin des Kirchenkreises. #PopUp-Kirche nennen sie das Format. Ein Experiment.
Sie kommen allein oder zusammen mit einer Freundin, einem Freund. Einige wenige auch mit der ganzen Familie. Am Ewigkeitssonntag, den meisten eher als „Totensonntag“ vertraut, wird es auf den Wegen des größten Dortmunder Friedhofs manchmal eng. Der Toten gedenken, dabei vielleicht auch die eigene Vergänglichkeit spüren - seit jeher zieht es die Menschen im November, wenn sich das Kirchenjahr dem Ende zuneigt, zu den Gräbern.
Eine Tochter begleitet ihre Mutter, deren Mann schon vor zehn Jahren verstorben ist. „Heute wäre sein 92. Geburtstag, darum gehen wir gleich noch zusammen essen.“ Die Kerze und das Päckchen Streichhölzer, die die Pfarrerin ihnen anbietet, nehmen sie gerne mit zum Grab. Eine Familie mit Kindern sucht sich ein paar Blumen aus dem bunten Strauß, den Pfarrerin Miriam Helmert anreicht. „Die Rose nehme ich der Oma mit“, erklärt ein Knirps auf einem Roller und nickt dazu mit kindlichem Nachdruck.
„Ob sie uns vielleicht begleiten“?, fragt eine elegante Dame, die mit ihren beiden Enkelkindern am Koffer mit den schlichten Teelichtern stehengeblieben ist. „Aber sicher“, erklärt sich Pfarrerin Luisa Großelohmann sofort bereit, mitzugehen. „Wissen Sie, ich finde es schwierig, mit den Kindern über den Tod zu sprechen“, erklärt die Ältere. Die richtigen Worte finden, kindgerecht erklären, was einem das Herz schwer macht - das ist gar nicht so einfach. Doch für die junge Theologin und ihre Kolleg*innen gehören die schweren Stunden, die existenziellen Fragen und die Suche nach Antworten zu dem, was ihren Beruf so besonders macht.
Gerade kommt Pfarrer David Raasch von einer Begleitung zurück, eine betagte Witwe war erkennbar froh, auf dem Weg zum Grab heute mal jemanden zum Reden zu haben. „Darf ich ihnen vielleicht einen Tee anbieten“, fragt er noch schnell einen jüngeren Mann mit Gartenwerkzeug, bevor er sich dem nächsten Gespräch zuwendet.
Aushalten. Das Schweigen. Die Wut. Die ganz große Traurigkeit. Und nicht gleich dem Impuls nachgeben, die Trauer mit einem „wird schon wieder“ wegzuwischen. Das haben Pfarrerinnen und Pfarrer gelernt - und vielleicht lassen sich darum heute auch Menschen auf eine kleine Begegnung ein, die von sich selber sagen, dass sie „mit Kirche“ eigentlich nichts zu tun haben.
Das Experiment geht auf. Vielleicht treten Menschen aus der Kirche aus. Doch die Kirche bleibt für sie da, kommt auf sie zu. Manchmal ganz unerwartet. Manchmal nur für einen kurzen Moment. Doch immer verlässlich.
Hermann geht alleine weiter. Er will es so. Doch das kurze Gespräch am Eingang des Friedhofs hat ihm trotzdem gefallen. Er wird seinem Gretchen davon erzählen.