27.05.2024

„Das ist akute Hilfe für die Seele“

Notfallseelsorge sucht und schult Ehrenamtliche

Von Nicole Schneidmüller-Gaiser

Es gibt ja Ehrenamtliche, die werden sehnsüchtig erwartet. Die grünen Damen im Krankenhaus oder der handwerklich begabte Nachbarschaftshelfer vom Seniorenbüro können sicher sein, dass sie freudig empfangen und mit einem Lächeln verabschiedet werden. Wer in das Team von Hendrik Münz kommt, der weiß vermutlich, dass sich niemand über seinen Besuch freuen wird. Denn der 43-jährige Pfarrer ist Leiter der Notfallseelsorge im Evangelischen Kirchenkreis Dortmund – er und seine ehrenamtlichen Kolleginnen und Kollegen kommen dann, wenn der Einsatzleiter vor Ort entschieden hat, dass Notfallseelsorge nötig ist – und sie bleiben, wenn Polizei oder Notarzt ihren Einsatz beendet haben. Um Beistand zu geben in Extremsituationen. Nun sucht die Notfallhilfe Verstärkung; eine spezielle Schulung für Ehrenamtliche startet nach den Sommerferien. Interessierte können sich ab sofort melden.

Sylvia Steffens und Dirk Eichelberg hören zu. Das macht das Interview, zu dem wir uns heute in den Räumen der Feuerwehr in Berghofen getroffen haben, ungewöhnlich langsam. Die beiden Dortmunder befinden sich aktuell noch in der Ausbildung, ihr Kurs endet in wenigen Wochen. Doch sie haben längst verinnerlicht, was eine der wichtigsten Fähigkeiten in der Notfallseelsorge ist: Zuhören. Aushalten, dass erstmal nichts passiert. Nicht ins Handeln kommen, sondern warten, bis der andere so weit ist. Pause. Pause. Pause.

Dabei kommen sowohl die 56-jährige Hebamme als auch der 69-jährige Mediziner aus Berufen, in denen schnelles Handeln oft lebenswichtig ist. „Als Arzt muss ich sofort agieren. Jetzt handle ich nicht, sondern bin nur da, begleite“, beschreibt Dirk Eichelberg. „Ich bin vielleicht eine Stütze – aber ich übernehme nicht das Gehen für den anderen.“

Was schon in der Theorie schwierig klingt, ist erst recht nicht leicht in die Praxis umzusetzen, darum gehören zum insgesamt achtmonatigen Kurs neben den wöchentlichen Vorträgen immer und immer wieder auch Übungseinheiten. „Das hilft enorm bei der Selbstreflexion“, betont Sylvia Steffens. Einsatzsituationen werden geübt, dabei können die Kursteilnehmenden einen professionellen, aber doch authentischen Stil entwickeln. „Das fängt ja schon an der Haustür an“, nennt Sylvia Steffens ein scheinbar „harmloses“ Beispiel. „`Guten Tag´ ist einfach keine gute Begrüßung. Wenn ich komme, ist das kein guter Tag für den anderen …“

Kommt der Anruf für einen Einsatz, dann liefert der sogenannte PSNV-Erkunder der Feuerwehr erst einmal Fakten. Die meisten der jährlich etwa 260 Einsätze, zu denen die Notfallseelsorge Dortmund pro Jahr hinzurufen wird, erfolgen im häuslichen Bereich. Ob es sich um eine erfolglose Reanimation, einen Herzinfarkt, einen plötzlichen Kindstod oder einen Suizid handelt, das wissen die Notfallseelsorgenden, bevor die Haustür sich öffnet. Aber nicht, was sie dahinter erwartet. Stille, Tränen, Wut, Fassungslosigkeit – oder eine scheinbar aufgeräumte Person, die erstmal das Geschirr vom Frühstück wegspült, um die neue Wirklichkeit noch eine Weile auszublenden. „Darauf muss man sich professionell vorbereiten, das muss man lernen“, formuliert Dirk Eichelberg bescheiden, obwohl ihm als Arzt schwierige Situationen ja nicht unbekannt sind. „Es reicht eben nicht, ein empathischer Mensch zu sein.“

Anders als im Krankenhaus, wo er im Team gearbeitet hat, ist zu diesem Zeitpunkt der Notfallseelsorger auf sich gestellt. Darum sei die Schulung so hilfreich für die Ehrenamtlichen, erklärt Hendrik Münz: „In der Ausbildung bekommen sie einen großen `Handwerkskoffer´ an Methoden.“ Dann geht es um die nächsten Schritte. Die sind so individuell, wie der Mensch, der so abrupt zu einem „Hinterbliebenen“ wurde.

„Notfallseelsorge ist eine anspruchsvolle Tätigkeit, man muss dafür geschaffen sein, sich zurücknehmen können, ein Gespür für die Bedürfnisse des anderen haben“, betont Hendrik Münz. Was braucht dieser Hinterbliebene, sollte jemand informiert werden, kann und soll jemand kommen? Hingegen geht es in diesen ersten Minuten und Stunden nicht darum, eine Antwort auf die Frage nach dem Warum zu finden. „Wir geben Halt und Orientierung, und halten dabei Trauer, Wut und Fragen ebenso aus wie Schweigen. Wir machen Notfallseelsorge, nicht Trauerbegleitung.“

Innere Distanz sei wichtig, um nicht selbst hilflos zu werden, weiß Hendrik Münz. „Menschen mit einem `Helfersyndrom´ sind in unserem Arbeitsfeld schnell überlastet.“ 25 Jahre sollten die Helfenden schon sein, wenn sie sich bewerben. Und auch, wer eine längere Beziehung zum Gegenüber aufbauen möchte oder Dankbarkeit sucht, ist in der Notfallseelsorge fehl am Platz. „Nach zwei bis drei Stunden ist ein Einsatz meistens vorbei“, erfahren die Ehrenamtlichen.

Die „spektakulären“ Fälle, die es in die Medien schaffen, sind eher selten – schwere Autounfälle oder Brandeinsätze. Natürlich kommt nicht bei jedem der 140.000 bis 150.000 Einsätze, die die Feuerwehr in Dortmund pro Jahr (!) fährt, die Notfallseelsorge zum Einsatz. Bei etwa 50 Ehrenamtlichen hat jede Notfallseelsorger*in 16 Rufbereitschaften pro Jahr, also vier pro Quartal. Die Ehrenamtlichen tragen sich selbst in einer Liste ein.  Die Notfallseelsorge arbeitet rund um die Uhr, an jedem Tag im Jahr stehen mindestens zwei Mitarbeitende 24 Stunden in telefonischer Bereitschaft. Und während der nun anstehenden Fußball-EM gibt es Sonderschichten; denn bis zu 20 Notfall-Seelsorgende werden während der Spiele im Einsatz sein, sodass bis zu 100 Personen jederzeit betreut werden können.

Am Ende ihrer Ausbildung sind fast alle der aktuellen Kursteilnehmer*innen noch dabei. Dass sie sich auf ihren ersten Einsatz „freuen“, wäre natürlich völlig falsch formuliert. Ruhig und sehr ernsthaft formuliert Dirk Eichelberg, was er sich für die Zeit nach dem Einsegnungsgottesdienst vorgenommen hat: „Ich möchte Halt geben, klare Worte finden, benennen, was wirklich ist, nicht drumherum reden.“  Es ist wohl ein guter Einsatz, wenn der Hinterbliebene das Gefühl bekommt: Der weiß, was er tut.“ Nach dem Einsatz werden die Fälle besprochen, in der Gruppe, bei Bedarf auch individuell.

Man spürt, dass diese beiden Menschen, Sylvia Steffens und Dirk Eichelberg, keine Dankbarkeit erwarten. „Man bekommt keinen Beifall. Das ist kein Ehrenamt, mit dem man im Rampenlicht steht. Aber es ist akute Hilfe für die Seele.“


Die Ökumenische Notfallseelsorge Dortmund begleitet seit 1994 Menschen in Dortmund. Die Mitarbeitenden werden bei einem tragischen Ereignis von der Feuerwehr benachrichtigt, um Menschen in dieser Situation Beistand zu geben. Die Mitarbeitenden sind im christlichen Glauben verankert. Dabei praktizieren sie aber Offenheit und Achtung gegenüber anderen Religionen, Weltanschauungen und Kulturen.

  • In der Rufbereitschaft übernehmen mindestens zwei Seelsorger*innen in verschiedenen Funktionen jeweils einen oder mehrere 24-Stunden-Dienste.
  • Für die mehrmonatige Ausbildung werden 10 bis 20 interessierte Frauen und Männer ab 25 Jahren gesucht, belastbar und mit Gesprächs- und Lebenserfahrung, die bereit sind, sich für die „Erste Hilfe für die Seele“ schulen zu lassen und in der Rufbereitschaft der Notfallseelsorge Dortmund mitzuarbeiten.
  • Während der Schulung absolvieren die Teilnehmenden 100 Stunden an 20 Terminen, im Anschluss macht jeder und jede ein Praktikum auf dem Rettungswagen.
  • Die Notfallseelsorge-Ausbildung findet im Zentrum für Seelsorge und Beratung des Ev. Kirchenkreises Dortmund, Klosterstraße 16, statt. Sie beginnt am 2. September und endet im Mai 2025. Nach der Ausbildung findet ein Auswahlgespräch statt, nach dem über die Mitarbeit entschieden wird.
  • Weitere Infos gibt es bei
Foto: niki
Bildzeile: Die Notfallseelsorge in Dortmund sucht Menschen, die wie Sylvia Steffens und Dirk Eichelberg ehrenamtliche Notfallseelsorger werden möchten. Nach den Sommerferien startet ein neuer Kurs – Interessierte sollten sich jetzt bewerben.
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