Von Nicole Schneidmüller-Gaiser
Stille. Völlig unerwartet. Mitten in Dortmund, mitten auf dem Westenhellweg, auf einer der quirligsten Einkaufsstraßen in Deutschland. Doch jetzt, in der Früh, hüpfen nur ein paar Tauben umher, picken die wenigen Krümel auf, die die Straßenkehrmaschine wohl übersehen hat. Die meisten Geschäfte sind noch geschlossen; und hier, zwischen Petrikirche und Königswall, sind am frühen Morgen auch nur wenige Passanten unterwegs. „Suchet der Stadt Bestes“, heißt diese StadtPilgerTour – und lädt ein, Dortmund mit anderen Augen zu sehen.
Die Stadt mit anderen Augen sehen
Keine Kaufhausmusik, keine Touristen, denen man ausweichen muss, keine Kleiderständer vor den Schaufenstern. Ohne jede Ablenkung, schweift der Blick der Pilger-Anfängerin tastend umher, folgt dem gleichmäßigen Pflaster, wandert langsam nach oben, und bleibt verwundert an den prächtigen, nie bemerkten, teils neugotischen, teils klassizistischen Fassaden hängen, die zwischen eher schlichter Neuzeit-Architektur an Dortmunds prächtige Vergangenheit erinnern. „Wir gehen heute einen Teil des Jakobswegs“, erklärt Dr. Johanna Beate Lohff, meine Begleiterin. Kaum vorstellbar: Wenn wir von hier aus den Muscheln im Pflaster immer weiter nach Westen folgen würden, kämen wir irgendwann in Spanien an, in Santiago de Compostela. Doch der Ort in Galicien ist ja nicht das eigentliche Ziel der Pilger – sondern der Wunsch, den Alltag hinter sich zu lassen, das Unbekannte zu entdecken. Im Vertrauten – und in sich selbst. Und das kann man auch mitten im Ruhrgebiet.
Ein Start mit Hindernissen
An ihren ersten Arbeitstag kann sich die Kunsthistorikerin noch gut erinnern. Es war noch stiller als heute – denn das Schicksal wollte es so, dass das Projekt „StadtPilgerTouren“, mit dem der Evangelische Kirchenkreis ein neues Angebot für Menschen auf der Suche nach Spiritualität machen möchte, mitten in der Pandemie an den Start ging. „Im Mai 2021 war die Stadt menschenleer – Lockdown“, erinnert sich Johanna Lohff. So blieb für das Team, mit dem gemeinsam sie bis heute alle Touren erarbeitet, genug Zeit, ein umfangreiches Programm zusammenzustellen, mit dem die StadtPilgerTouren dann im Herbst 2021 endlich starten konnten.
Corona bescherte den Pilgern noch mehr Unerwartetes: „Wir hatten anfangs eine Pilgertour `Rund um die Petrikirche´“, erzählt Johanna Lohff. Pfarrerin Christel Schürmann, die Pfarrerin der Innenstadtkirche, war erstaunt, was man alles rund um das 700 Jahre alte, mittelalterliche Gotteshaus entdecken kann. Der intensive Gang um die Petrikirche war wohl die bis heute streckenmäßig kürzeste Pilgerroute. „Mit der Zeit haben wir natürlich auch längere Touren ausgearbeitet“, schmunzelt Lohff und ergänzt: „In diesem Jahr gibt es erstmals auch ein mehrtägiges Wandern durch die Altmark und im Herbst sogar eine Studienreise nach Rom.“ Doch das Hauptaugenmerk liege nach wie vor auf Dortmund und allem, was es hier zu entdecken gibt.
In der Zwischenzeit haben wir die Fußgängerzone hinter uns gelassen. Mitten auf einer Verkehrsinsel lässt mich Johanna Lohff anhalten. Beim Blick auf die vorbeirasenden Autos ist der gedankliche Weg hin zum eigenen, oft so schnell vorbeiziehenden Leben gar nicht so überraschend – wenn man sich die Zeit dafür nimmt. Meist lege ich Wege zwischen A und B doch eher eilig zurück, um irgendwo anzukommen. „Beim Pilgern lassen wir uns auf den Weg ein, auf die Details am Rande, und stellen uns Fragen ans Leben und an uns selbst“, erfahre ich von meiner Begleiterin. Eine kleine Bibel für unterwegs trägt sie immer bei sich, und ein paar ausgewählte Gedichte, Sätze, Gedanken.
Jede Tour ist anders
Ob die Gruppen, in denen meist sechs bis maximal 20 Personen mitgehen, unterwegs schweigen oder sich zu bestimmten Themen miteinander unterhalten, machen Johanna Lohff und die anderen Referent*innen von den Menschen abhängig, die mitgehen. „Man geht immer auf die Leute ein, die da sind – und dadurch ist jede Tour anders.“
Wir laufen mittlerweile durch das Unionsviertel, immer auf der Suche nach „der Stadt Bestes“ und die Kunsthistorikerin macht mich auf die vielen Werke urbaner Künstler aufmerksam. „Kunst im öffentlichen Raum ist vergänglich“, weiß sie und zeigt auf eine Freifläche, wo vor kurzem noch ein Haus mit Wandmalerei stand. Doch nun ist das Haus weg und macht den Weg frei für den Blick auf eine andere Hauswand mit Fluchttüren, die jetzt – ohne zugehörige Treppe – ins Nichts bzw. in den Abgrund führen. „Hier würde ich jetzt einer Gruppe zum Beispiel einen Impuls geben, miteinander darüber ins Gespräch zu kommen.“ Wer hat mir zuletzt eine Tür zu mir geöffnet? Das könnte so eine Fragestellung sein.
Beim Gang durch den Westpark wird es noch einmal ernst; die alten Grabsteine und Denkmäler erinnern an frühere Kriege und führen unsere Gedanken fast automatisch in die Ukraine, wo in diesem Moment wieder Menschen Waffen tragen müssen und sterben.
An der Grabeskirche endet unsere Tour. Drei Stunden dem Alltag entzogen. Die Blicke fokussiert und die Gedanken geweitet. Pilgern macht etwas mit mir, das spüre ich deutlich. Zum Abschied schenkt mir Johanna Lohff noch einen Text von Gisela Baltes, den ich in mir trage, während ich widerstrebend und doch beschwingt in meinen Alltag zurückkehre. „Hin und wieder einhalten …“, heißt es darin. „… Hin und wieder Maß nehmen: Was ist wichtig in deinem Leben? Was nimmt zu viel Raum ein? Was zu wenig?“
Durchatmen. Zur Ruhe kommen. Das war nicht mein letztes StadtPilgern!