04.11.2019

Freiheit für den ganzen Menschen

Die Gemeinden und Stadtkirchen in Dortmund, Lünen und Selm haben den diesjährigen Reformationstag mit festlichen Gottesdiensten gefeiert.

St. Reinoldi: Die Totalität des Evangeliums

Die Erinnerung an Karl Barth stand im Mittelpunkt des Gottesdienstes zum Reformationstag, zu dem die Stadtkirche St. Reinoldi eingeladen hatte. Dem prägenden Theologen des 20. Jahrhunderts hatten die Dortmunder Kirchengemeinden St. Reinoldi und Paul-Gerhardt zuvor bereits eine Veranstaltungsreihe gewidmet.

Der ehemalige westfälische Präses Alfred Buß beschrieb in seiner Predigt Barths Vorstellung von dem Reich Gottes als einzig real denkbaren legitimierten Staat. Auch wenn er noch nicht zu bewohnen sei, hätten Christinnen und Christen schon heute für ihn die Bürgerrechte.

Karl Barth postuliere in seiner Theologie den Totalitätsanspruch des Evangeliums, so Buß. Weltlichen Staatsgefügen hingegen habe Barth jeglichen Anspruch totaler Vereinnahmung abgesprochen. So habe er als Professor offiziell Beschwerde eingelegt, als ihm nach der nationalsozialistischen Machtergreifung der Einsatz des deutschen Grußes in seinen Vorlesungen befohlen worden war. Auch den geforderten „Eid auf den Führer“ habe Barth verweigert. Folgerichtig wurde dem Theologen zeitnah die Lehrerlaubnis an der Universität entzogen.

Die Träger staatlicher Macht, so Buß, müsse die Kirche nach Barths Willen stets ins Gebet nehmen. Dabei sei es unabdingbar, Freiheit einzufordern. Lediglich Gott könne Anspruch auf den ganzen Menschen erheben. Doch der unterwerfe den Menschen nicht, sondern mache ihn vielmehr frei.
So gelte es, fortwährend für die Träger der Macht zu beten. Beten indes ersetze nicht das Handeln, es dränge vielmehr dazu, erläuterte Buß. „Heute könnte man vielleicht sagen: Beten ist eine Art von Empowerment“, sagte der Alt-Präses.

Karl Barth, der Verfechter der Demokratie, habe zugestanden, dass man in einer Demokratie an einer „Pöbelherrschaft“ verzweifeln könne. Eine solche jedoch müsse man als Christ nicht mittragen, auch wenn sie demokratisch legitimiert sei. Jegliche Politik habe das Reich Gottes zum Ziel zu setzen.

Ein Spiegelbild der Hoffnung, so Alfred Buß, habe der Theologe Barth stets in der Musik Mozarts gesehen. Wenn er dereinst ins Himmelreich komme, werde er dort zuerst nach dem Komponisten fragen, bevor er sich um die Bekanntschaft mit großen Theologen bemühe, soll Karl Barth einmal gesagt haben. So steckten Mozart-Kompositionen, dargeboten von der Camerata Musica und Reinoldi-Kantor Christian Drengk, den Rahmen zum Reformationsgottesdienst in der Dortmunder Stadtkirche.

St. Georg Lünen: Musik im Zentrum

Zu einem musikalischen Gottesdienst hatten die Kirchengemeinden in Lünen am Abend des Reformationstages in die Stadtkirche St. Georg eingeladen. Die Posaunenchöre der Gemeinden Lünen und Preußen unter der Leitung von Gundula Hubig und ein großer Chor, begleitet von der Band Elected und geleitet von Kreiskantorin Jutta Timpe, sorgten für festliche Stimmung. Auch die Besucherinnen und Besucher wurden von Pfarrerin Friederike Scholz-Druba aufgefordert, kräftig in die Musik miteinzustimmen.

Im Zentrum der Predigt des stellvertretenden Superintendenten des Kirchenkreises Dortmund, Michael Stache, stand die Liebe. „Frisch verliebt zu sein ist ein wunderbarer Zustand. Aber leider hält der nicht für ewig an.“ Nach der Verliebtheit komme die Liebe, der Alltag und dabei immer wieder Fragen: „Kann ich jemand sein, den ein anderer lieben kann? Ist das wirklich Liebe?“

Auch im Schema Israel, dem sogenannten Glaubensbekenntnis des Judentums und Predigttext für den diesjährigen Reformationstag, ist von der Liebe die Rede. Der Glaube an den einen Gott und die Liebe zu ihm verbinde Christen und Juden. Der gemeinsamen Wurzeln sollten wir uns gerade in der heutigen Zeit besonders bewusst werden.

Ist das wirklich Liebe? Gottes Antwort auf diese Frage sei immer dieselbe: „Gott fordert Liebe nicht als Voraussetzung, um mich zu lieben“, so Michael Stache. Für Gott müssten wir nicht anders oder mehr sein, als die Person, die wir sind. Gott hat uns bereits gerecht gesprochen: Diese reformatorische Erkenntnis Martin Luthers gebe Kraft und Zuversicht.

Mit einer mitreißenden Version von „Hevenu shalom“ stellte auch der Chor noch einmal die Verbindung zum Judentum her, ehe der Gottesdienst mit einem gemeinsam gesungenen „Verleih uns Frieden gnädiglich“ endete. Im Anschluss war im Gemeindesaal bei einem Empfang noch Gelegenheit zu Gesprächen und Begegnung.

Pauluskirche: Frei, fair und lebendig

Für eine Reformation heute sprach sich der Gottesdienst zum Reformationstag in der Pauluskirche aus. Angesichts einer „tiefen Krise der Gesellschaft“ – Rücksichtslosigkeit und Gier, Maßlosigkeit und Selbstsucht – „müssen wir uns ändern, sonst verlieren wir alle“, so Pfarrerin Sandra Laker. „Wir brauchen ein anderes, ein gutes Leben“, ergänzte Pfarrer Friedrich Laker. Ein notwendiger Wandel der Gesellschaft weg von der Fixierung auf das Geld, hin zu einer gerechten Teilhabe aller, das wäre Reformation heute – so die Meinung der beiden Theologen.

Martin Luther hätte uns mit seiner Gnadenlehre auch dafür den Weg gewiesen. Wenn wir, wie Luther lehrt, ohne Vorbedingung und Leistung geliebte Kinder Gottes sind, dann könne man diese Gnadenlehre in eine Gesellschaftstheorie überführen. „Weil wir Menschen sind, nimmt uns Gott an, weil wir Menschen sind, steht uns zu, was wir zum Leben brauchen – nicht aufgrund einer Leistung“, so Pfarrer Laker. Gemeingüter, auch „Commons“ genannt, seien die Konsequenz aus Luthers Lehre.

Vertieft haben Friedrich Laker und die Sozialwissenschaftlerin Silke Helferich den Gedanken einer Alternative zum egoistisch-kapitalistischen System im gemeinsamen Gespräch. „Wir sollen das bekommen, was wir brauchen“, so die Buchautorin Helferich, „ohne dass wir in Vorleistung gehen.“ Alle sollen gemeinschaftlich teilhaben an den Ressourcen dieser Erde. Vertreterinnen der „Solidarischen Landwirtschaft“ aus Herdecke berichteten von ihrem konkreten Projekt, in dem zwei Dutzend Personen nicht für den Markt, sondern gemeinschaftlich für sich selbst produzieren.

Reformation 2019, das bedeute, sich auf diesen Weg zu begeben, so Sandra Laker. Es gehe um „ein neues Bild des Menschen und der Erde“, sagte Friedrich Laker. Und um „das Bewusstsein, dass alles miteinander verbunden ist.“

Dietmar Korthals an der Orgel und Nic Koray, Liedermacherin aus Herdecke, haben den Gottesdienst musikalisch begleitet.

Foto: Stephan Schütze
Präses i.R. Alfred Buß (Mitte) hielt in St. Reinoldi den Gottesdienst gemeinsam mit Pfarrer Ulrich Dröge (links) und Kantor Christian Drengk.
Foto: Stephan Schütze