Dass eine Kirche zum Gottesdienst wegen Überfüllung geschlossen werden muss, kommt selten vor. In der Stadtkirche St. Reinoldi war es im September der Fall. Obwohl endlich wieder mehr Besucher*innen in das große Kirchenschiff hineindurften als in den Monaten zuvor, fanden zahlreiche Menschen, die den Gottesdienst mitfeiern wollten, keinen Platz mehr und mussten an der Tür zurückgewiesen werden.
Eingeladen hatten Pfarrerin Susanne Karmeier und Kantor Christian Drengk zu einem besonderen Gottesdienst. Unter dem Titel „Oper trifft Kirche“ waren Künstlerinnen und Künstler der Oper Dortmund zu Gast. Sie gestalteten den Gottesdienst mit Arien aus der neuen Produktion der Oper, dem barocken Pasticcio: „Sehnsucht“.
Sopranistin Sooyeon Lee und der Sopranist Bruno de Sá begeisterten mit Arien von Georg Friedrich Händel, Riccardo Broschi und Nicola Antonio Porpora. Bruno de Sá debütiert als Gast mit seiner außergewöhnlichen Stimmlage mit „Sehnsucht“ an der Dortmunder Oper. Er wurde erst kürzlich als „Nachwuchssänger des Jahres 2020“ ausgezeichnet. Begleitet wurden Sopranistin und Sopranist von Korrepetitorin Tatiana Prushinskaya.
Opernintendant hielt Kanzelrede
Die Kanzelrede, die beim Gottesdienst an die Stelle der Predigt trat, hielt Opern-Intendant Heribert Germershausen. Darin schlug er die Verbindung des neuen Opern-Pasticcios zum „Hohen Lied der Liebe“ aus dem ersten Brief des Paulus an die Korinther. Das Pasticcio „Sehnsucht“ rankt sich um die Lebensgeschichte eines gereiften Mannes, seine Rückschau auf sein Leben und die damit verbundene Sinnfrage.
Die Opernproduktion nutze dafür, anders als es das Thema „Sehnsucht“ vermuten lasse, keine romantische Literatur, sondern biete eine Collage aus Stücken selten gespielter, gleichwohl eindrucksvoller Opern des Barock, erläuterte Germershausen. Damit setze man pandemiekonform auf kleine Orchesterbesetzungen und nähere sich dem Thema Sehnsucht zugleich auf umfassendere Weise.
Gesellschaft kann auf Dauer ohne Glauben an Gott nicht existieren
Heribert Germershausen zeigte sich überzeugt, dass eine Gesellschaft, erst recht in ihrer komplexen Form der Gegenwart, nicht ohne einen Glauben an Gott, an ein transzendentes Heilversprechen auf Dauer existieren könne. Er postulierte ein aufgeklärtes Christentum, das, so seine Einschätzung, nie in der Menschheitsgeschichte so wichtig gewesen sei wie heute.
Der Opern-Intendant schlug wiederum die Brücke zwischen Paulus und der Musik, wenn es gelte, Menschen mit einer Botschaft zu erreichen. Das Hohelied habe eine Sprache getroffen, die Menschen in ihrer Sehnsucht nach Gott erreicht habe. So gelinge es auch der Musik. Germershausen verwies auf ein Zitat von Victor Hugo: „Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber es unmöglich ist, zu schweigen.“
Oper traf Kirche – und machte in St. Reinoldi gleichsam neugierig auf das kommende barocke Pasticcio auf der Opernbühne wie auf weitere eindrucksvolle, verbindende Gottesdienste in der Dortmunder Stadtkirche.