Sonntagabend. 20.15 Uhr. Vor den Fernsehern der Republik versammeln sich die Menschen – es ist Tatort-Zeit. Durchschnittlich 8,3 Millionen Fernsehzuschauer*innen fiebern jede Woche mit den Kommissaren aus Köln, Münster oder München mit – da kann man als Kirchenvertreterin schon mal neidisch auf die Zahlen schielen. In die Gottesdienste der Evangelischen Kirche kamen vor Corona bundesweit etwa 683.000 Menschen pro Sonntag – weniger als ein Zehntel davon. Doch das ist nicht der Grund, warum sie in der Dortmunder Pauluskirche an diesem Sonntag wieder die Leinwand aufgebaut haben. Das liegt wohl an Faber – und an der Liebe der Dortmunder*innen zu ihrer Stadt.
Er erregt die Gemüter, wie keiner seit Schimanski: Peter Faber. Der getriebene, schlecht gelaunte, immer am Rande des Wahnsinns irrlichternde, und vielleicht gerade deshalb so menschlich-verwundbare Kommissar aus Dortmund. Wie Schimmi trägt er Parka, und wie der „Kollege“ aus Duisburg nimmt man ihm ab, dass er weiß, wie schwer und ungerecht das Leben sein kann. Vielleicht passt das „Rudelgucken“, das die Lydia-Kirchengemeinde seit zehn Jahren zu jedem Dortmunder Tatort anbietet, gerade deshalb so gut in ein Gotteshaus. Bei Faber und seinem Team geht es immer auch um die großen Themen des Lebens: um Schmerz und Trauer, um Wut und Verzweiflung, um Liebe und Familie.
„Du bleibst hier“ heißt diese 22. Episode. Die erste ohne Frau Böhnisch, „Martina“, wie der vorsichtig verliebte Faber sich gerade erst zu sagen traute, da starb sie durch eine Kugel. Bis zu 300 Personen folgten in den zurückliegenden Jahren der Einladung des Lydia-Teams rund um Pfarrer-Ehepaar Sandra und Friedrich Laker. „Bei einigen Folgen mussten wir sogar die Empore öffnen“, erinnert sich der Gemeindepfarrer an den Zuspruch.
Jetzt waren sie zurückhaltend mit ihren Erwartungen. Drei Jahre Corona liegen auch hinter der Gemeinde, es gab phasenweise keine Gottesdienste und auch kein Rudelgucken. Und so blicken sie um 19 Uhr noch verhalten über die leeren Bänke – was soll das WDR-Team filmen, wenn keiner kommt? Die sind doch extra angereist, um über das Event zu berichten …
Doch die Sorge ist unnötig. Nach und nach füllen sich die Reihen. Menschen aus der Gemeinde, alt eingesessene Nachbarn aus der Nordstadt, junge Studierende, die sich hier im Viertel ein WG-Zimmer genommen haben. Annegret Niehoff verteilt am Eingang Sitzkissen; sie ist Mitglied im Helferteam, so wie auch Tina, die jetzt eine Ansage macht und verrät, dass man draußen beim Thomas ein Getränk kaufen kann.
Irgendwie vermischt sich alles: Die auf der Leinwand sprechen genauso wie die in der Kirchenbank, und draußen sieht es genauso aus wie im Film: Jugendliche hängen im Westpark ab, Faber Senior läuft durch sein Viertel und grüßt die Nachbarn, ein Investor will die alten Mieter loswerden. „Früher war alles besser“, daran erinnern sich die Damen im trutschigen „Salon Engel“ – und auch Martin, der Film-Friseur, trauert dieser Zeit hinterher, als es noch Miteinander und Zusammenhalt gab.
In der Kirche, im echten Leben, gibt es diese Trauer um das Vergangene auch manchmal. Die Lydia-Gemeinde in der Nordstadt war früher so viel größer, hat allein in den vergangenen zehn Jahren fast ein Drittel der Gemeindeglieder verloren. „Als wir 2002 hier angefangen haben“, erinnert sich Pfarrer Laker, „haben wir darum gezielt nach Formaten gesucht, mit denen wir Menschen in der mittleren Lebensphase ansprechen können.“ Statt zu resignieren, haben sie ausprobiert: Spezielle Themen-Gottesdienste wurden gefeiert; es gab „Gottesdienste an besonderen Orten“ – und irgendwann hatte jemand die Idee: „Warum zeigen wir nicht den Tatort?“
Passt aber Krimi in eine Kirche? Vermutlich ja - denn es passt ja – für manchen vielleicht überraschend – auch Kirche in den Krimi. Zumindest in diese Tatort-Folge „Du bleibst hier.“ Faber, den Trauernden, zieht es mitsamt seinem blühenden Kaktus in der Liebfrauenkirche, wo er sich, umgeben von Kerzen und Gedenk-Fotos, sanft ins Leben zurückstupsen lässt. Und Jupp, sein Vater, mahnt tanzend die Nachbarn: „Nie die Hoffnung aufgeben!“ Hätte Pastor Laker nicht schöner sagen können.
In den Sozialen Netzwerken überschlagen sich an diesem Abend mal wieder die Kommentatoren. Überwiegend vor Begeisterung – Tatort mit Lokalkolorit kommt an bei den Menschen. Und auch in der Kirche nicken sie zustimmend. „Ja. Passt schon.“
Nur an einer Stelle, da sind sich die Freundinnen in der Bank hinter mir einig, ist der Tatort völlig unrealistisch. „Faber ist der Einzige, der im Kreuzviertel so schnell einen Parkplatz kriegt.“