„Unsere europäischen Grenzen sind gerade die tödlichsten der Welt.“ So beschrieb Stadtkirchenpfarrerin Susanne Karmeier die Situation, wie sie sich nach wie vor für Menschen auf der Flucht vor Krieg und Terror darstellt. Insbesondere beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, kommen viele von ihnen zu Tode. Das ist und bleibe ein Skandal, so Karmeier. „Wir versuchen zu tun, was wir können, und fühlen uns ohnmächtig.“
Mit Veranstaltungen zum Weltflüchtlingstag machte die Stadtkirche St. Reinoldi zum wiederholten Mal auf die Flüchtlingskatastrophe aufmerksam. In einem Totengedenken am Samstag, 19. Juni, wurden im Wechsel mit Momenten der Andacht und der Stille Namen von Menschen verlesen, die auf der Flucht gestorben sind. Anschließend hatte die Vereinigung SEEBRÜCKE zu einer Demonstration unter dem Titel „Menschenrechte sind #unverhandelbar!“ aufgerufen.
Am darauffolgenden Sonntag standen zwei Gottesdienste unter dem Motto aus dem Buch Rut: „Wie kommt es, dass du so freundlich zu mir bist. Ich bin doch eine Fremde?“ Superintendent i.R. Paul-Gerhard Stamm verwies in seiner Predigt auf die Angst von Menschen, die schon immer mit dem Thema Flucht einhergehe – Angst auf Seiten derjenigen, die fliehen müssen, Ängste aber auch bei denen, in deren Land sie kommen. Fremde würden oft als Bedrohung erlebt, zu Zeiten, von denen die Bibel erzählt, genau wie heute. „Darum brauchen wir, brauchten die Menschen damals die guten Geschichten, vom Gelingen, von Menschlichkeit, von Menschenwürde. Wir brauchen sie auch“, so Stamm in seiner Predigt.
Das Buch Rut im Alten Testament erzählt so eine Geschichte von gelingender Integration und Miteinander. Und auch in den Lesungen junger Geflüchteter, die am Freitagabend vor dem Weltflüchtlingstag in der Reinoldikirche stattfand, blitzten solche guten Geschichten auf. Drei ehrenamtliche Autor*innen der Zeitschrift nid (neu in Deutschland), eines integrativen Projekts aus Bochum, in dem junge Menschen, die erst seit wenigen Jahren in Deutschland leben, von sich und ihren Erfahrungen berichten, waren beim Abendgebet in St. Reinoldi zu Gast.
Umrahmt von stimmungsvoller Musik – der Fagottist Mourah Alsirieh spielte gemeinsam mit Reinoldikantor Christian Drengk (Flügel), Gitarrist und Sänger Ari Masto trug arabische Lieder vor – lasen sie eigene Texte. Lyriker Rawand Ali etwa beeindruckte mit seinem Gedicht ‚Lieber Vater‘, in dem er seine Gefühle für den eigenen Vater beschrieb, den er vor fünf Jahren in Syrien zurückgelassen hatte.
Der Student Issam Alnajm, der aus Kurdistan nach Dortmund gekommen ist, berichtete über den Moment der Ankunft jesidischer Geflüchtete, die vor der Terrororganisation IS geflüchtet waren, in seinem kurdischen Dorf. Und er beschrieb die Nöte, die Bedrohung und Grenzziehungen durch seine Heimat hervorriefen. Alnajm zog in einem seiner Texte Parallelen zur Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg und stellte sich das Glück deutscher Freunde und Familien am Tag des Mauerfalls vor.
Die syrische Autorin Lamia Hassow, ebenfalls seit fünf Jahren in Deutschland, beschrieb ihren „ersten wundersamen Moment des Glücks“, nachdem sie im für sie ungewohnt kalten, dunklen Winter in Deutschland angekommen war. Der trat ein, als sie ältere deutsche Frauen in bunten Kleidern und mit grauen Haaren fröhlich und selbstbewusst durch die Straßen gehen sah.
Aber die Autor*innen berichteten auch von Momenten der Anfeindung, denen sie mutig und positiv begegnen. „Auch Worte schneiden und verletzen, aber sie bringen mich nicht um“, so Lamia Hassow. Mit ihrem literarischen Projekt wollen sie und ihre Kolleg*innen dazu beitragen, dass sich Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund gegenseitig besser verstehen. Eine der guten Geschichten im Angesicht des nicht enden wollenden Skandals – in Bochum und Dortmund wie im Buch Rut.