10.11.2016 // Gedenken an die Pogromnacht 1938

Wachsam sein

78 Jahre sind vergangen seit dem Ereignis, das „Reichskristallnacht“ genannt wurde. Ausschreitungen, Zerstörungen und Plünderungen jüdischer Wohnungen, Geschäfte und Synagogen.

Gedenken an die Pogromnacht 1938

78 Jahre sind vergangen seit dem Ereignis, das damals „Reichskristallnacht“ genannt wurde. Ausschreitungen, Zerstörungen und Plünderungen jüdischer Wohnungen, Geschäfte und Synagogen. Gewalt gegen jüdische Bürger, Verhaftungen und Morde.

Die Pogromnacht gilt als Beginn der systematischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung.  Gottesdienste im Evangelischen Kirchenkreis haben den Opfern der Pogromnacht vom 9. November 1938 in Lünen gedacht.

Lünen

„Kaum jemand unter uns hat eine eigene Erinnerung daran oder eine eigene Schuld“, so Thomas Grabowski vom Presbyterium der Gemeinde bei der Begrüßung in der Stadtkirche St. Georg. Es gehe um das Wachhalten der Erinnerung, die es zu bewahren gilt „in einer Welt voll Krieg, Hass und Gewalt.“

„Unsere Geschichte wäre zu Ende, wenn wir vergessen würden“, sagte Diakon Wilfried Heß von der Katholischen Kirche. Die damaligen Gräueltaten seien „das dunkelste Kapitel unsere Stadtgeschichte“.

Hess spannte in seinem Vortrag einen Bogen von 1492, der ersten Erwähnung von Juden in der Stadtgeschichte Lünens, bis hin in die Nazizeit. Waren Juden zunächst „Fremdlinge“ und „Gäste“ ohne die Möglichkeit der freien Berufswahl oder des Erwerbs von Grundeigentum, so wurden sie ab Beginn des 19. Jahrhunderts „selbstverständlicher Teil der Gesellschaft mit allen Rechten und Pflichten“.

Die evangelische und die katholische Gemeinde halfen sogar, eine Synagoge zu errichten. Auch wenn sich eine jahrzehntelange selbstverständliche Nachbarschaft herausbildete, blieben doch unterschwellige Vorurteile. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts bewusst geschürt, bereiteten sie den Boden für die Judenverfolgung und –vernichtung der Nazis.

Für Pfarrer Udo Kytzia erinnert „die Verrohung unserer Zeit und unserer Gesellschaft“ in manchem an die damaligen Ereignisse. „Und dann wird der 9. November 1938 nicht nur eine Erinnerung an etwas, was weit weg ist.“ Es brauche, so appellierte er in seiner Predigt, einen „Geist der Empathie, der Besonnenheit und der Solidarität“.

Dortmund

Langjährige Tradition hat das ökumenische Gedenken in der Stadtkirche St. Petri.  Die gemeinsame Veranstaltung mit der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen stand unter dem Thema „Erinnern, Stille, Gebet, Musik“.

„Wir gedenken“, so Stadtkirchenpfarrerin Almut Begemann, „weil wir die Stimme erheben gegen Ausgrenzung und Misshandlung von Menschen anderer Herkunft in unserem Land.“ Die Untaten von damals könnten immer wieder geschehen; deshalb müsse man wachsam sein. „Wir erleben eine neue Realität von Hass und Gewalt.“

Es sei erschreckend, wie sehr der Antisemitismus wieder gesellschaftsfähig geworden sei. Mit Hinweis auf das 500-jährige Reformationsjubiläum fand Begemann deutliche Worte für die „unerträgliche Judenfeindschaft des Wittenberger Reformators“. Sie habe in der Geschichte „unheilvoll gewirkt“.

Drei Schülerinnen des Max-Planck-Gymnaisums, Jessica Bockermann, Jennifer Neb und Paula Thebach, berichteten über das Schicksal der jüdischen Familie Kaufmann, die in der Kronprinzenstraße gewohnt hatte.

Ihr Geschäft wurde 1938 zwangsweise „arisiert“, 1942 mussten Julius Kaufmann zusammen mit seiner Frau Lilly und dem Sohn Ernst in ein sogenanntes „Judenhaus“ in der Nähe des Schwanenwalls umziehen. Im Sommer des gleichen Jahres wurden sie in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Der Vater verstarb dort bereits im Oktober. Mutter und Sohn wurden 1944 in Auschwitz umgebracht.

Eine Gedenkstrecke mit Kerzen, den Namen der Familie Kaufmann und weiteren Namen von Dortmunderinnen und Dortmunder, die nach Therresienstadt deportiert wurden, war in der Mitte der Kirche gelegt.

Musikalisch gestalteten den Gottesdienst Christiane Conradt (Cello) und Ludwig Kaiser (Orgel).

Wachsam gegen Rassismus

Bei der Gedenkveranstaltung der Stadt Lünen am Mahnmal der jüdischen Opfer (Lippeufer) mahnte Pfarrer Friedrich Stiller vom Ev. Kirchenkreis zur Wachsamkeit gegenüber Antisemitismus und Rassismus. Wir veröffentlichen Auszüge seiner Rede:

„Auch hier wurde das jüdische Gotteshaus geschändet, jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger misshandelt und verschleppt, vier von ihnen sogar ermordet. … Immer wieder geschieht es, dass rassistischer Hass und unmenschliche Gewalt aufbrechen. Die Achtung der Menschenwürde ist nicht garantiert, damals nicht und heute nicht. … Denn auch heute gibt es die Feinde der Menschlichkeit, die Rassisten. Noch im Januar haben wir in Lünen den Versuch der Dortmunder Rechtsextremisten erlebt, hier ihre rassistischen Parolen zu verbreiten. Diese Gruppe, die uns seit Jahren provoziert, stellt sich selbst in unfassbarer Weise in die direkte Nachfolge der Verbrecher von damals. …

Das Phänomen des Rechtspopulismus ist nach Deutschland zurückgekehrt. … Studien seit den achtziger Jahren zeigen, dass es dafür seit langem ein Potential von acht Prozent und mehr gibt. Insbesondere die Angst vor dem Islam und die Ablehnung der Muslime geht noch weit darüber hinaus und reicht weit in unsere bürgerliche Mitte. …

Anstand und Menschlichkeit, ethische Werte und Gottesfurcht sind nicht selbstverständlich. Das ist das Vermächtnis, das ist aber auch unser Auftrag.“

  • Die Rede von Pfarrer Friedrich Stiller zum Herunterladen:
    rede_stiller_pogromnacht_luenen.pdf, Größe 640 KB
Foto: Stephan Schütze
Bildzeile Foto 1: Jennifer Neb, Paula Thebach und Jessica Bockermann vom Max-Planck-Gymnasium gestalteten den Gottesdienst in St. Petri gemeinsam mit Pfarrerin Almut Begemann, Sigrid Schäfer von derGesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und Pfarrer Burkhard Kurz von der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (v.l.).