10.07.2024

„Wir streiten darum, wer das größere Opfer ist …“

Beeindruckende Lebensgeschichten aus Israel / Palästina. Gewaltfrei zur Versöhnung

Von Nicole Schneidmüller-Gaiser

Die Versuchung schwingt immer mit. Sich auf eine Seite zu schlagen. Partei zu ergreifen – für „die Palästinenser“, die da gerade im Gazastreifen täglich ihr Leben und ihre Lebensgrundlage verlieren. Oder für „die Israelis“, die sich seit Jahrzehnten von Feinden umgeben fühlen und die seit dem 7. Oktober um ihre Toten und Verschleppten trauern.

Viele der Zuschauer*innen in der gut gefüllten Pauluskirche sind älteren Semesters, und man ahnt, dass sie sich ein Leben lang engagiert haben. Für die eine oder für die andere Seite. Doch genau dieses Engagement sollen sie jetzt zurückstellen, darum bitten die beiden Männer auf dem roten Sofa im Altarraum, bevor sie beginnen, ihre Geschichten zu erzählen. Nicht spalten. Nicht rechtfertigen oder erklären. Sondern zuhören und mitempfinden.

Der Israeli Rotem Levin und der Palästinenser Osama Iliwat setzen sich in einer NGO für die friedliche Koexistenz ihrer Völker ein. Sie sind überzeugt, dass nur Gewaltlosigkeit Frieden bringen kann. Seit Monaten befinden sie sich nun schon auf Vortragsreise, erzählen Abend für Abend, wie aus einem israelischen Soldaten und einem palästinensischen Widerstandskämpfer „Combatants for Peace“ wurden, Kämpfer für den Frieden. Der Titel des Abends ist Hoffnung und Überzeugung zugleich: „Es gibt einen anderen Weg“.

Unter den Zuhörern in Dortmund heute: Özlem und ich. Meine Herzensschwester ist eine in Deutschland aufgewachsene Muslima mit türkischen Eltern. Ich selber, eine als Erwachsene getaufte Protestantin, bin nur auf der Welt, weil sich meine katholische Urgroßmutter vor den Nazis verstecken konnte – wegen ihrer jüdischen Eltern hätte sie den Holocaust sonst wohl nicht überlebt. Wir haben einige Übung darin, unsere eigene Perspektive nicht als die einzig denkbare zu betrachten – und lernen immer noch dazu. Nun hören wir die Lebensgeschichten zweier Männer, die in unterschiedlichen Welten aufgewachsen sind, obwohl ihre Elternhäuser nur 93 Kilometer voneinander entfernt standen. Mit dem Auto braucht man von Dortmund aus etwa so lange nach Köln, wie man von Tel Aviv nach Jericho unterwegs wäre – mit dem Unterschied, dass vermutlich kaum jemand dort auf die Idee kommt, diese Reise anzutreten.

Der kleine Rotem lebt in einem Dorf nahe Tel Aviv. Er kennt nur Juden, spricht kein Arabisch – und hört von den Erwachsenen, seinen Eltern und Lehrern, immerzu, dass „die Palästinenser“ hinter dem Terror stecken, der zur Zeit der Zweiten Intifada das Land erschüttert – da ist er zehn Jahre alt. In ihm wächst Angst. Er meidet Begegnungen – unterhalten sich im Bus Menschen auf arabisch, steigt er eilig aus.

An hohen Feiertagen tauchen in der Schule Soldaten auf, die von allen bewundert werden, weil sie für die Sicherheit im Land sorgen – keine Frage, auch er will Soldat werden, seine Leute beschützen, und mit großer Selbstverständlichkeit tritt er mit 18 den obligatorischen Militärdienst an. Doch nach zwei Jahren kommt nachts ein Befehl, der alles für ihn verändert: Mitten in der Nacht wird seine Einheit in ein verschlafenes, palästinensisches Dorf gefahren. Die jungen Soldaten steigen aus und werden aufgefordert, in die im Dunkeln liegenden Häuser Granaten zu werfen. Dann steigen sie wieder ein – und fahren weg. „Ich hatte getan, was man von mir verlangte, doch auf dem Rückweg sprach ein Kollege aus, was ich auch dachte: Das ist nicht richtig, das sollten wir nicht tun.“ Er bringt den Militärdienst zu Ende, verweigert ihn jedoch rückwirkend, geht auf Reisen, lernt in Deutschland Palästinenser kennen – und erfährt von denen, dass der in Israel gefeierte „Befreiungskrieg“ von 1948 für die Palästinenser „Nakba“ ist: die große Katastrophe. Etwa 700.000 Menschen waren unmittelbar betroffen, mussten fliehen und die Enteignung ihres Landes, Eigentums und Besitzes hinnehmen. Ein Trauma, das seither von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Unter denen, die vertrieben wurden, war auch Familie Ilivat. Osama ist zwölf Jahre älter als sein jüdischer Freund Rotem, geboren lange nach der Nakba, Ende der 70er-Jahre. „Doch alle Familiengeschichten, die ich kenne, sind Geschichten von Angst und Verlust“, erzählt er. Er selbst wächst in Jericho auf, erlebt als kleiner Junge die Ohnmacht gegenüber martialisch bewaffneten, „jüdischen“ Soldaten – und trägt immer eine Zwiebel mit sich herum, weil ihm jemand gesagt hat, die würde gegen Tränengas helfen. Auch er kennt keinen Israeli persönlich – doch als er 14 ist, stürmen Besatzer das Elternhaus, nehmen seinen Vater fest. Als der zurückkehrt, sind die Spuren der Schläge nicht zu übersehen. „Ich entwickelte Hass, ich war voller Wut und wollte Rache.“ Osama spart sein Taschengeld und kauft – Sprühfarbe. Damit sprüht er nachts „Free Palestine“ an Häuserwände, hängt selbst gebastelte Fahnen in Bäume, und hat dabei ebenso viel Angst vor den Besatzern wie davor, vom Vater ertappt zu werden.

Als in einem anderen Teil der Welt das Oslo-Abkommen unterzeichnet wird, gibt es plötzlich Hoffnung auf Frieden, und Osama wird Polizist, „weil ich die Umsetzung des Abkommens unterstützen wollte.“ Doch mit Jitzchak Rabbin stirbt die Hoffnung auf eine Lösung des Konfliktes wieder, die jüdischen Siedler nehmen sich immer mehr Land – und Osama verlässt die Polizei, geht in den Widerstand, studiert – und zieht 2010 nach Bethlehem. Dort landet er eines Abends eher zufällig auf einer Veranstaltung von Friedensaktivisten, und stellt überrascht fest, dass das keine Europäer sind, sondern Juden. Juden, die die anwesenden Palästinenser über ihre Rechte aufklärten.

Erstmals in seinem Leben beschäftigt sich der inzwischen 31-Jährige mit seinen jüdischen Nachbarn. Mit ihrer Geschichte, dem Holocaust, mit ihrem Trauma, mit ihrer Angst. Er lernt Iwrit, die hebräische Sprache – und gründet die Gruppe „Visit Palestine“, um Juden nach Palästina zu bringen. Er will zeigen, was es bedeutet, als Palästinenser in Israel zu leben, und er ist überzeugt: „Einander treffen ist der einzige Weg zum Frieden. Von Angesicht zu Angesicht. Von Mensch zu Mensch.“

Zwei Männer. Zwei Perspektiven. Vor sechs Jahren führt das Leben sie zusammen, seither sind Rotem und Osama gute Freunde. Als „Combatants for Peace“ haben sie sich dem gewaltlosen Widerstand für eine friedliche Lösung des Nahostkonfliktes verschrieben. Sie haben keine Patentlösung, nur ihre Hoffnung: „Wenn wir uns einander unsere Geschichten erzählen, unsere Trauer teilen, miteinander weinen – dann können wir die Angst eines Tages vielleicht überwinden.“

Müde wirken sie. Alle beide. Und doch entschlossen. Der 7. Oktober, der natürlich auch an diesem Abend zur Sprache kommt, hat das Land verändert, die Fronten sind verhärtet wie lange nicht. Noch lange stehen an diesem Abend die Menschen auf dem Kirchhof zusammen, es scheint, als wollten die Deutschen von ihren Gästen hören, wie sie sich in diesem Konflikt verhalten sollen. „Schickt uns keine Waffen“, sagt der Israeli Rotem Levin. „Traumatisierte Menschen brauchen keine Waffen!“. Und sein Freund, der Palästinenser Osama Iliwat ergänzt: „Schickt uns eher Therapeuten, denn wir alle sind traumatisiert. Wir streiten darum, wer das größere Opfer ist. Seid nicht parteiisch! Seid für Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Gleichberechtigung – und zwar für alle!“

Özlem und ich, wir nehmen diese Botschaft mit nach Hause: Solange die Palästinenser unfrei sind, werden die Israelis nicht sicher sein. Und die Palästinenser werden nicht frei sein, solange die Israelis in Unsicherheit leben.

Foto: Stephan Schütze
Der Palästinenser Osama Iliwat (l.) und der Israeli Rotem Levin setzen sich in der NGO „Combatants for Peace“ (Kämpfer für den Frieden) für die friedliche Koexistenz ihrer Völker ein.
Foto: Stephan Schütze