Türkeikenner referierte zur politischen Entwicklung der Türkei
Als Pfarrer Holger Nollmann aus der Tür der evangelischen Kreuzkirche im Zentrum Instanbuls tritt, nimmt er auf der einen Seite die roten Fahnen der Demonstranten auf dem Taksim-Platz wahr. „Man hätte meinen können, in der Türkei sei die Revolution ausgebrochen.“ Auf der anderen Seite der Kirchenpforte geht es völlig ruhig zu.
Mit diesem Bild illustrierte Nollmann den mehr als 40 Anwesenden im Gemeindehaus Wellinghofen die unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Facetten im Leben „dieses wundersamen Landes am Bosporus“.
Neun Jahre lang hat Nollmann als Pfarrer mitten im Herzen Istanbuls gearbeitet und gelebt. Über die aktuelle Lage in der Türkei referierte er Ende Juni auf Einladung der Kirchengemeinde Wellinghofen, des Runden Tischs Grimmelsiepen und des Evangelischen Bildungswerks.
Direkt zu Anfang forderte er seine Zuhörer auf: „Legen sie Ihre Denkschablonen weg, es passt in diesem Land nicht alles zusammen.“ Eigentlich, so Nollmann, könne man überhaupt keinen Vortrag über die aktuelle politische Situation in der Türkei halten.
„Denn was sich heute als richtig darstellt, kann morgen schon falsch sein.“ Nollmann versuchte es trotzdem und es wurde ein spannender, informativer Abend. In seinem Verlauf arbeitete Nollmann deutlich einige wichtige Linien in der politischen Entwicklung der Türkei heraus. Im Ergebnis der Proteste um den Gezi-Park und das Grubenunglück in Soma sei eine „ganze Generation schlagartig politisiert worden“.
Auch wenn die Proteste brutal niedergeschlagen worden seien, sei die Türkei nicht mehr das Land, das es vorher war. „Es hat sich eine Zivilgesellschaft entwickelt“. Dennoch sei die Machtposition der AKP („die CDU der Türkei“) und des Premiers Erdogan unangefochten, was auch an der völlig zersplitterten parlamentarischen Opposition liege, die „keine überzeugenden politischen und personellen Alternativen“ biete.
Die aktuellen rhetorischen Ausraster Erdogans („heftig polternder Ministerpräsident auf neoosmanischem Trip“) seien bewusstes Kalkül, um bei den Präsidentschaftswahlen das konservativ-nationalistische Wählerpotenzial möglichst vollständig auszuschöpfen.
Mit Blick auf Europa sei die Begeisterung über einen möglichen EU-Beitritt dramatisch zurückgegangen. Die Europäer mögen das so interpretieren, dass sich die Türkei von Europa entferne. Die Wählerschaft Erdogans sieht es umgekehrt: Europa entferne sich von der Türkei.