21.07.2020

#zukunftsrelevant

Ein Besuch beim Team der Jugendarbeit in der Lydiagemeinde

von Christina Biere

Noch links um die Kurve, einmal kräftig in die Pedale und Kirchenrad abgestellt. Hier gibt es einen ordentlichen Fahrradständer direkt vor der Kirche. Das freut mich. Als Regionalpfarrerin im Amt für Mission, Ökumene und Weltverantwortung besuche ich ein Team der Lydiagemeinde in der Dortmunder Nordstadt. Mit diesem Team habe ich immer mal wieder Kontakt, denn hier geht es um transkulturelle Jugendarbeit, ein Zukunftsthema für die Ökumene.

Justin winkt mir aus dem Gemeindehaus stürmisch entgegen: „Hallo, Christina, schön, dass du da bist! Willst du dein Fahrrad vielleicht lieber in der Kirche abstellen?“. In der Kirche? Nee, so schlimm wird es hier in der Dortmunder Nordstadt schon nicht sein … Das Fahrrad bleibt wo es ist, High Five und Justin nimmt mich mit ins Gemeindehaus. Es gibt sogar etwas zu essen.  Ich bin erstaunt. „Na klar, deshalb geht man doch in die Kirche, oder?“ Justin lacht. „Bei uns gibt’s immer was zu essen!“ Verena stellt das Essen auf den Tisch, Benny verteilt das Besteck und Barbara einen Schluck ziemlich süßen Roséwein, den ich erstmal verdünne.

Jugendcamp der Lydia-Kirchengemeinde

Die vier Teamer*innen sehen sehr erschöpft aus. Nach zwei Tagen Jugendcamp treffen sie sich abends zum Nachgespräch und haben mit dem Essen auf mich gewartet. „Ich habe schon Eure Fotostory auf Instagram geschaut“, beginne ich das Gespräch. „Ja, wir waren im Garten und haben ein Blumenbeet angelegt, und andere haben heute Hand Lettering gemacht.“ Hand, was? Verena holt drei große Tassen aus der Küche. „Die haben die Teilnehmer*innen heute nicht mitgenommen. Die Tassen werden mit schöner Handschrift verziert, dann kommt alles in den Backofen und wird eingebrannt.“ Eine Tasse ist für „mom“, eine andere verspricht „GOOD Vibes“. Hier haben sich Menschen sehr viel Mühe gegeben.

„Es ist richtig gute Stimmung“, sagt Benny, „die Kids haben sich wegen Corona lange nicht gesehen und genießen jetzt die Gemeinschaft!“ Und wie funktioniert das mit dem Maskenschutz? Alle 15 Teilnehmer*innen gehören zu einer Gruppe und müssen untereinander keine Maske tragen. Die Teamer*innen sind die andere Gruppe und tragen immer Masken. „Und das war heute bei der Gartenarbeit ganz schön anstrengend!“ Es macht nicht den Anschein, als würde sie das bereuen. „Die Kids blühen hier auf, dafür mach ich das gern“, sagt Barbara.

Barbara Matt hat Religionspädagogik und Soziale Arbeit studiert, einen Master in Religionswissenschaft und eine Ausbildung zur Diakonin gemacht. Von der Lydiagemeinde in der Dortmunder Nordstadt hat sie in einer Fortbildung zur interkulturellen Öffnung der Kirche (ÖKUFIT) in Hamburg erfahren. „Daraufhin bin ich dann nach Dortmund gezogen, um in dieser Gemeinde mitzuarbeiten und um meine Masterarbeit zu schreiben.“ In dieser Arbeit hat sich Barbara mit der zweiten Generation von migrantischen Kirchengemeinden beschäftigt. „Die zweite und dritte Generation in Familien mit einer Migrationsgeschichte lebt transkulturell. Das hat für unsere Gesellschaft sehr viel Potenzial. In der gemeinsamen evangelischen Jugendarbeit mit Christ*innen der zweiten und dritten Generation liegt eine große Chance“, so beschreibt Barbara ihr Motivation auch nach dem Abschluss des Studiums weiter in dieser Gemeinde mitzuarbeiten.

Potenzial und Chance – worin liegt denn genau dieses Potenzial und diese Chance? Verena Tigges, Agrarökonomin, Theologin und nun Pfarrerin in Ausbildung, nimmt in der Lydiagemeinde in der Dortmunder Nordstadt eine besondere Kreativität, ein gutes Miteinander zwischen den Generationen und ein ganz intensives Interesse an der Gemeinschaft wahr. „Es ist einfach toll, dass hier Gemeinsamkeiten im Vordergrund stehen, nicht vermeintliche Unterschiede. Die Jugendlichen erfahren hier persönlich ganz viel Aufmerksamkeit, lernen sich selber noch einmal anders kennen, übernehmen Verantwortung füreinander. Solche Erfahrungen sind wertvoll für ein gutes Zusammenleben in der Gesellschaft.“

Ich nehme einen ganz achtsamen und sensiblen Umgang miteinander wahr an diesem Abend und kann mir gut vorstellen, dass sich auch Jugendliche hier wohlfühlen. Braucht ihr für Eure Arbeit auch eine besondere Sensibilität in Bezug auf Rassismus? Spontan nicken alle vier. „Ja, ich glaube schon. Und ich glaube, mehr Sensibilisierung dazu wäre für alle in der Gemeinde gut“, meint Benjamin Patrick. Benjamin ist Presbyter in der Gemeinde. Er hat auch schon erlebt, dass Gemeindemitglieder wie einen „Fremden“ behandelt haben, obwohl er doch hier in der Nordstadt aufgewachsen ist. Benny studiert Sozialpädagogik und Sport auf Lehramt. Morgen beim Camp macht er mit den Jugendlichen „kollegiale Beratung“. Du berätst sie? „Nein“, Benny lacht, „sie beraten sich gegenseitig. Es geht darum voneinander zu lernen, gut mit herausfordernden Situationen umzugehen. Das können sich Jugendliche am Besten gegenseitig beibringen!“.

Ich bin beeindruckt. Kollegiale Beratung habe ich erst als Erwachsene kennen gelernt. Aber überhaupt lerne ich ja Vieles erst jetzt kennen, was die Kids aus der Dortmunder Nordstadt schon im Kindergarten oder hier in der Jugendarbeit lernen – also zum Beispiel Sensibilität für das Thema Rassismus. „Wir thematisieren hier in der Gruppe auch Verletzungen aufgrund von Vorurteilen, die die Jugendlichen einander entgegenbringen“, sagt Benny. „Ja, und andererseits geschieht auch Empowerment dadurch, dass wir schon so ein transkulturelles Team sind“, meint Barbara. Ein Junge habe ihr heute noch erzählt, wie sehr Benny Vorbild für ihn sei. „Benny ist mir so ähnlich wie sonst in meiner Klasse und Schule niemand“, habe er gesagt.

Das kennt Justin Sathiskumar auch. Er ist schon mit seiner Oma als Kind in die Lydiagemeinde gegangen und fühlt sich hier sehr zu Hause. Es ist toll, dass ich in der Gemeinde ermutigt werde, mich auszuprobieren und diese Ermutigung auch an die Jugendlichen weitergeben kann. Es braucht Vorbilder für jede*n, um sich etwas zuzutrauen.“ Ich höre hier auch, dass es gar nicht so leicht ist für Kinder mit diversen Herkünften und Hintergründen, solche Vorbilder zu finden, auch in der Kirche nicht.

Mein Fahrrad ist noch da. Und es passt auch noch mein Talar auf den Gepäckträger. Justin und Barbara hatten ihn sich ausgeliehen für die Social Media Aktion #zukunftsrelevant. Unter diesem Hashtag zeigen junge Erwachsene, was sie für zukunftsrelevant in der Kirche halten. Es lohnt sich für Kirche, da genau hinzuschauen.

Foto: Stephan Schütze
Interkulturell und mit toller Stimmung: Das Jugendcamp der Lydia-Kirchengemeinde.
Foto: Stephan Schütze