18.10.2022

Wir weigern uns Feinde zu sein

Intergenerative Studienreise führte nach Israel und Palästina

von Dirk Loose

Tent of Nations

Der Weg zum palästinensischen Weinberg ist steinig, staubig und vermüllt. Man parkt bei der jüdischen Siedlung Neve Daniel und klettert über ein aufgeschüttetes Hindernis aus Steinen und Schotter, von der israelischen Armee vor Jahren errichtet.

Daoud Nassars Familie besitzt ein 42 Hektar großes Grundstück fünf Kilometer südwestlich von Bethlehem, 950 Meter hoch gelegen, an klaren Wintertagen sieht man das Mittelmeer. Daouds Großvater Daher – deshalb auch der Name Dahers Weinberg – kaufte das Land 1916 von einem Bauern. Mit der Familie lebte er in einer Höhle. Sie pflanzten Bäume an, Granatapfel, Mandel, Feigen, Oliven sowie Rebstöcke, aus deren Trauben sie Wein kelterten.

Alttestamentlich mutet alles hier an. 1990 war es mit der Idylle jedoch vorbei. Daoud erfuhr, dass das Gebiet um Dahers Weinberg israelisches Staatsland sei; binnen 45 Tagen könne er Widerspruch einlegen. „Wir sind die einzige Familie, die das getan hat”, sagt Daoud, dessen arabischer Name David bedeutet. Widerspruch einlegen erfordert viel Geschick, Energie und Geld.

Nachweise, dass seine Vorfahren in osmanischer, britischer und jordanischer Zeit Steuern für das Land entrichteten, waren der israelischen Militärbehörde vorzulegen. Augenzeugen sollten bestätigen, dass die Kultivierung des Landes vorrangig sei. Daoud überzeugte 50 Nachbarn und Freunde, vor dem Militärrichter auszusagen. Nach vierstündiger Wartezeit in der Hitze hieß es: „Heute haben wir keine Zeit mehr. Kommt morgen wieder.“ Dank Daouds Überzeugungskünsten begleiteten ihn die Zeugen anderntags erneut zur Militärbehörde. 

Siedlergewalt sorgte zudem für schlaflose Nächte. Einmal versuchten jüdische Siedler, eine Straße durch den Weinberg zu bauen, ein andermal rissen sie im Beisein internationaler Friedensaktivisten gerade gepflanzte Ölbäume aus. Gegenüber einem Siedler verwies Daoud auf seine Besitzurkunde aus osmanischer Zeit. Der Siedler hielt dagegen: „Wir haben Dokumente von Gott“ und meinte die hebräische Bibel. Über 200.000 € kostete Daoud dieser Rechtsstreit mit dem Staat Israel, das meiste Geld kam über Spenden.

Die Militärverwaltung schreibt vor, dass in dieser Zone keine Gebäude errichtet werden dürfen. Die Gruppe sitzt in einer großen Höhle und lauscht den Berichten von Daoud. Es ist beeindruckend. Ein Ort des gewaltfreien Widerstandes. Alle Gebäude auf dem Weinberg sind in den Berg hineingebaut und weil feste Bebauung verboten ist, gibt es Zelte. Das Wasser wurde abgedreht, Daoud und seine Freund*innen gruben bis heute 23 Zisternen, die das Regenwasser auffangen und die Pflanzen speisen. Da die Stromleitungen gekappt wurden, haben Initiativen in Europa und aus den USA ein kleines Solarkraftwerk gespendet.

Überhaupt begeistert der gewaltfreie Widerstand viele junge und alte Menschen weltweit, die für ein paar Tage oder Wochen als Freiwillige bei der Ernte mithelfen, diesen Ort zu erhalten. Höhlen ausbauen, Zisternen graben, Friedenssymbole und Botschaften auf den Berg schreiben. Sie wohnen dann gemeinsam in Zelten. Tent of Nations.

Direkt gegenüber hat der israelische Staat eine neue Siedlung gebaut. Nach internationalem Recht ist das nicht erlaubt, aber er tut es trotzdem. Fakten schaffen. Die Siedler*innen schauen auf den Weinberg von Daoud und sehen dem Treiben zu. Mit hohen Schutzzäunen und Sicherheitszonen ist die israelische Siedlung geschützt. Alle Häuser haben Strom und fließendes Wasser.

„Das ist schon krass, diese Geschichten zu hören und trotzdem an den Frieden zu glauben. Ich bewundere Daoud für seine Arbeit und Einstellung. Und dass er weitermacht“, sagt Hannah Fischer, eine*r der Teilnehmer*innen der intergenerativen Studienfahrt der Ev. Jugend Dortmund und des Referates Ökumene nach Israel und Palästina.

Das Projekt „Tent of nations“ auf Dahers Weinberg, war nur eine Station auf der Reise, die verschiedene Friedensprojekte und historische Orte miteinander verband. Die Hälfte der Teilnehmenden waren junge Menschen bis 27 Jahre, für die viele Ereignisse in diesem Konflikt neu waren. Ihre Fragen dazu waren sehr hilfreich, um miteinander ins Gespräch zu kommen. So konnten im Dialog mit den älteren Teilnehmenden – teilweise Zeitzeug*innen Gespräche – bis tief in die Nacht über das Oslo Abkommen, Intifada, Hisbollah u. v. m. geführt werden. Tel Aviv, Haifa, der See Genezareth, Bethlehem, das Tote Meer, Masada und Jerusalem waren weitere Stationen der Reise und für alle beeindruckend.

Das Leben im Kibbuz

Die Gesprächspartnerin im Kibbuz Kibbutz Mishmar HEmek, ermöglichte allen einen Einblick in die Idee des genossenschaftlichen Lebens in einer Siedlung gleichberechtigter Mitglieder, in der es kein Privateigentum gibt und das tägliche Leben kollektiv organisiert wird. Kein eigenes Haus, kein eigenes Auto, alles gehört allen. „Das kann auch befreiend sein und ist urchristlich“, sagt Jenny Kolbus von der Evangelischen Jugend.

Projekt Weg zur Genesung

Das Projekt „Road to Recovery“ hat die Teilnehmer*innen beeindruckt. Juval Roth fährt kranke palästinensische Kinder in israelische Hospitäler – obwohl Hamas-Anhänger einst seinen Bruder töteten. Der Mord an seinem Bruder Udi war für Juval Roth Anfang und Ende zugleich. Udi wurde von Hamas-Anhängern getötet, heute fährt Juval Menschen aus Palästina in Krankenhäuser nach Israel. Vergeltung wollte er nie. Er hatte verstanden, dass sich etwas ändern muss, dass die Gewalt überwunden werden muss. Er fragte Freund*innen, ob sie helfen können und heute gibt es 1.500 Freiwillige, die jährlich eine Million Kilometer mit privaten Pkw fahren, um kranke Palästinenser*innen zu den Krankenhäusern zu bringen. In Palästina gibt es nicht so gut ausgestattete Krankenhäuser mit guten Ärzten. Die Palästinenser*innen dürfen ihre eigenen Pkw aus Sicherheitsgründen nicht über die Grenze fahren und so werden die kleinen und großen Patient*innen an der Grenze abgeholt und anschließend wieder zur Grenze gebracht.

Die Dar il Kalima-Universität in Bethlehem

Der Kirchenkreis Dortmund fördert seit Beginn eine Initiative in Bethlehem, die jungen Menschen durch eine gute Ausbildung Hoffnung und Zuversicht geben will. Mittlerweile ist aus der Initiative von Dr. Mitri Raheb die Dar il Kalima Universität geworden, die Ausbildungen bzw. Studiengänge in den Bereichen Kochen/ Hotel-, Gaststätten- und Kunstgewerbe sowie nachhaltiger Tourismus anbietet. Palästina hat kaum Industrie und nur geringe wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten. Ein Großteil der Einnahmen wird aus dem Tourismus-Sektor generiert. Daher ist es notwendig, junge Menschen für diesen Bereich zu qualifizieren und damit den Tourismus wettbewerbsfähiger zu gestalten.

Rabiner*innen für Menschenrechte

Rabbis for Human Rights“ ist ein Projekt israelischer Rabbiner*innen, die sich selbst als „Stimme des Gewissens“ in Israel beschreibt. Zu ihren Mitgliedern zählen Reformjuden, orthodoxe Juden, konservative Juden und Studenten. Laut ihrer Webseite hat sie „über hundert Rabbiner und rabbinische Studenten“ in ihren Reihen. Sie sind hauptsächlich für die Entsendung von Freiwilligen bekannt, die als menschliche Schutzschilde fungieren, um die palästinensische Olivenernte vor Vandalismus und Übergriffen durch Siedler zu schützen, die auf nahegelegenem Land leben. Jedes Jahr werden Zusammenstöße zwischen Siedlern und palästinensischen Landwirten gemeldet.

Die Rabbiner*innen lehnen den Bau der israelischen Sperranlage im Westjordanland überall dort ab, wo er die Enteignung von Land in arabischem Besitz, die Teilung von Dörfern oder das Abschneiden von Wegen, Versorgung und Wasser. Sie setzten sich für die universitären Menschenrechte ein, die auch für die Palästinenser*innen gelten.

„Ich bin sehr froh, diese Reise mitgemacht zu haben“, so Justin Satishkumar, „besonders die Kombination von tollen mutmachenden Projekten und die Besuche an den historischen Orten, wo Jesus geboren, gelebt, gepredigt hat und gestorben ist, waren der Hammer.“

Foto: EvKkDo
Daoud Nassar berichtet über das Leben auf dem Grund seiner Familie zwischen fünf israelischen Siedlungen und die dauerhafte Auseinandersetzung über seinen Besitz mit dem Staat Israel.
Foto: EvKkDo